„Die kommende Wahl ist vielleicht die letzte, bevor Ungarn vollends zur Diktatur wird“ – mit diesem provokanten Zitat eines ungarischen Bürgers, titelte ein Beitrag des Zeit-Magazins in der Ausgabe vom 16. Februar 2022. Diese Titelgeschichte in einem angesehenen Magazin gibt einen ersten Hinweis auf die enorme Bedeutung, welche die Wahl in Ungarn am 3. April hatte. Spiegelt sich diese Relevanz auch in der nationalen und internationalen Medienberichterstattung wider? Und wie wird insgesamt über den Wahlkampf berichtet? Diesen Fragen widmeten sich im Sommersemester 2022 acht AUB-Studierende des Studiengangs Internationale Beziehungen im Methodenseminar bei Dr. Kristina Kurze, in dessen Rahmen sie eine „Qualitative Inhaltsanalyse“ der Berichterstattung durchführten.
Im Rahmen des Seminars wurden Beiträge großer Mediendienstleister aus Ungarn (Mandiner, Magyar Nemzet, Népszava), Deutschland (SZ, FAZ), Österreich (Der Standard, Kronenzeitung), Großbritannien (BBC, The Guardian) und Frankreich (Le Figaro, France24, Franceinfo) im Zeitraum von Oktober 2021 bis März 2022 untersucht. In einem explorativen Lernformat konnten die Studierenden dabei erste Erfahrungen mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring machen. Mittels induktiver Kategorienbildung wurde auf Basis einer exemplarischen Anzahl an Artikeln (insgesamt: 81) zunächst in Einzel-, später in Gruppenarbeit, jeweils ein Kategoriensystem zur inhaltlichen Zusammenfassung der ungarischen und internationalen Berichterstattung erstellt. Daraufhin wurde aus vergleichender Perspektive auf die beiden Kategoriensysteme geblickt, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Medienberichterstattung zu identifizieren.
Die Beiträge in den untersuchten ungarischen Medien bedienten sich einer sehr polarisierenden Sprache und spiegelten keine neutrale Berichterstattung wider. So wurde in einem Artikel der Zeitung Magyar Nemzet über die aktuellen Umfragewerte von März 2022 der ungarische Politikwissenschaftler Dániel Deák zitiert, der Márki-Zay als „zagyvaságokat beszélő kirakatember“ (dt. Kauderwelsch sprechende Vorzeigefigur) bezeichnete und ihn für sein angeblich fehlendes Kommunikationsvermögen im Wahlkampf kritisierte. Ebenfalls im März diesen Jahres wurde in der Zeitung Mandiner ohne weiteren Kommentar ein Facebook-Beitrag des ungarischen Journalisten und Schauspielers László Juszt abgedruckt, in dem sich László in schärfsten Tönen über die Reaktion des ungarischen Ministerpräsidenten auf die russische Invasion in der Ukraine äußerte. So wurde Orbán in diesem zitierten Beitrag als „műveletlen, olvasatlan, harácsoló akarnok“ (dt. ungebildeter, unbelesener, tyrannischer Möchtegern) bezeichnet und darauf hingewiesen, dass internationale Medien ihn als „Putyin kurvája“ (Hure Putins) oder auch als „Tömeggyilkos“ (dt. Massenmörder) betiteln würden. Interessant war bei der Analyse außerdem, dass in den Artikeln entweder eine Pro- oder Contra-Fidesz-Position eingenommen wurde. Zugleich wurden in der nationalen Berichterstattung aber sehr vielfältige Politikfelder thematisiert.
In der internationalen Berichterstattung hingegen konnten weitaus weniger differenzierte inhaltliche Themen des Wahlkampfes ausgemacht werden. Der Fokus lag hier vielmehr auf der Bewertung und Einordung der Wahl an sich. Insbesondere die Medien aus Deutschland beschreiben die Parlamentswahl häufig als Richtungswahl (Fidesz oder Nicht-Fidesz (FAZ, Oktober 2021)). In den österreichischen Medien wurde die Wahl tendenziell als Hoffnung für Ungarn dargestellt. Die englischen und französischen Zeitungen ordneten die Wahl als eine große Herausforderung für den amtierenden Ministerpräsidenten Orbán ein. Über alle analysierten internationalen Medien hinweg zeigte sich eine kritische Berichterstattung bezüglich der aktuellen Regierung. So wurde beispielsweise in der deutschen Zeitung SZ im Oktober 2021 von der „Orbán-Wahlkampfmaschine“ gesprochen. Außerdem wiesen die analysierten internationalen Medien auf den Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit hin. Auffallend war zudem, dass die britischen und französischen Artikel eher in einem knappen Berichtsstil und kaum wertend geschrieben waren. Hier fanden sich darüber hinaus auch insgesamt weniger Artikel über den Wahlkampf in Ungarn. Deutsche und österreichische Medien zeigten im Vergleich eher eine wertende Tendenz in der Berichterstattung. Auch quantitativ gesehen konnten in österreichischen und deutschen Medien mehr Artikel zum Wahlkampf gefunden werden als in den anderen beiden Ländern. Dies könnte ein Hinweis auf ein unterschiedlich hohes Interesse am ungarischen Wahlkampf in den verschiedenen Ländern sein, wobei eine abschließende Bewertung eine umfassendere Erhebung verlangen würde. Insgesamt zeigte sich die internationale Berichterstattung stark personenbezogen, wobei das Hauptaugenmerk der meisten Artikel auf die Person Viktor Orbán gelegt wurde. Über alle Beiträge hinweg konnte jedoch tendenziell eine (implizite) Orbán kritische Haltung erkannt werden.
Zusammenfassend kann ein vorsichtiges Fazit gezogen werden, das aufgrund des teils nur eingeschränkten Medienzugangs und der zeitlichen Begrenzung dieses Pilot-Forschungsprojektes nur eine Tendenz abbildet: die nationale Berichterstattung war politisch weitaus polarisierter, zugleich aber stärker auf inhaltliche Themen des Wahlkampfes fokussiert. In der internationalen Berichterstattung wurde eher personenbezogen berichtet und weniger detailliert auf inhaltliche Themen des Wahlkampfes eingegangen. Gleichzeitig blieb jedoch die Kritik an der aktuellen Regierung nicht aus. Trotz dieser unterschiedlichen Ansätze bestand in der Berichterstattung eine einhellige Einschätzung: Die Parlamentswahl 2022 wurde als richtungsweisend für Ungarn und seine europäischen Partner angesehen.
Dorothee MÜNßINGER & Roxána Afrodité NAGY