Was haben der Rapper Sido, der Rolling-Stones-Gitarrist Ron Wood und die Femme fatale Carmen aus George Bizets gleichnamiger Oper gemeinsam? Während die naheliegende Antwort „gute Musik“ an der individuellen Geschmackshürde scheitern könnte, besteht eine weitere Gemeinsamkeit: Alle drei gehören Sinti*zze und Rom*nja an, der größten Minderheit in Europa. Genauso wie Charlie Chaplin, der Schauspieler Yul Brunner, der Sprachwissenschaftler Ian Hancock und viele mehr. Weit über die Grenzen Ungarns hinaus
bekannt ist beispielsweise der Jazzmusiker Ferenc Snétberger. Mit einem Bevölkerungsanteil von etwa 9% stellen Rom*nja auch hier die größte anerkannte Minderheit dar.
Sinti*zze und Rom*nja leben seit dem Mittelalter in Europa. Trotzdem sehen sie sich vielfach Ausgrenzung und Anfeindungen ausgesetzt und müssen um den Erhalt der eigenen Kultur und Sprache kämpfen. Dies zieht sich als tiefe Spur durch die Jahrhunderte und gipfelten in dem nationalsozialistischen Völkermord an Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland und Europa. Aber auch aktuellere Ereignisse wie die Serie von Brandanschlägen und gezielten Morden, die 2008 und 2009 in Ungarn 6 Rom*nja tötete und 55 verletzte, zeigen deutlich: Antiziganismus betrifft uns alle, egal ob in Budapest, Berlin oder Brüssel.
In Ungarn arbeitet die Regierung mit ihr nahen Interessenvertretungen der Rom*nja zusammen. Die deutsche Bundesregierung setzte 2019 die Unabhängige Kommission Antiziganismus ein, die ihre Handlungsempfehlungen unter breitem Einbezug der Betroffenen ausarbeitete. Diese Empfehlungen fanden 2022 Eingang in die Antiziganismus-Strategie der Bundesregierung. Ebenso wurde erstmals ein Beauftragter gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland ernannt; für internationale Angelegenheiten der Sinti*zze und Rom*nja gibt es seit 2018 eine*n Sonderbeauftragte*n des Auswärtigen Amts.
International wegweisend war die Verabschiedung der nicht-rechtsverbindlichen Arbeitsdefinition von ‚Antiziganismus‘ durch die Internationale Allianz für Holocaustgedenken (IHRA) 2020 mit ihren derzeit 35 Mitgliedsstaaten, darunter Ungarn, Deutschland und USA.
Auf ihr basiert auch die von Fings herausgegebene und koordinierte, weltweit erste Enzyklopädie des nationalsozialistischen Völkermords an Sinti*zze und Rom*nja, die, 2024 lanciert, aktuell bereits über 1000 Beiträge von 100 Forscher*innen aus über 25 Ländern enthält und frei (https://encyclopaedia-gsr.eu/) zugänglich ist.
Die Überwindung gesellschaftlicher Vorurteile liegt nicht nur in der Verantwortung (nicht-)staatlicher Einrichtungen, erst recht nicht bei der Minderheit selbst. Jede*r Einzelne kann etwas gegen Antiziganismus tun: Ein erster Schritt ist es, sich die gesamtgesellschaftliche Herausforderung bewusst zu machen, wie es der mitreißende Vortrag von Fings geschafft hat. Ein nächster - und vielleicht noch wichtigerer - Schritt besteht darin, miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn nur so kann es gelingen, das vielfach abstrakte Bild aufzubrechen und in der persönlichen, respektvollen Begegnung eine Vielzahl von Perspektiven authentischen Lebens von Sinti*zze und Rom*nja als selbstverständlichen Teil unserer Gesellschaften kennenzulernen und wertzuschätzen.
Joel KELLER