Dies ist der Anlass, um die Beziehungen der beiden Staaten genauer zu betrachten und die Rolle des ungarischen Premierministers Viktor Orbáns im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsprozess Serbiens zu diskutieren. Ungarn ist ein wichtiger Partner für Serbien, und auf politischer Ebene bestehen derzeit ausgezeichnete Beziehungen, die insbesondere durch den ungarischen Premierminister Viktor Orbán und den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić geprägt werden.
1. Serbien: Außenpolitischer Fokus Ungarns
In der aktuellen ungarischen außenpolitischen Strategie aus dem Jahr 2011 wurden die Westbalkanstaaten als eine strategisch wichtige Region identifiziert, die im Mittelpunkt der Erweiterungspolitik der EU steht. Insbesondere wegen seiner eigenen Erfahrung im Bereich der demokratischen Konsolidierung, Europäisierung und europäischen Integration setzt sich Ungarn für den Beitritt der Länder des westlichen Balkans ein. Im strategischen Dokument plädiert Ungarn für den „schnellstmöglichen“ EU-Beitritt Serbiens unter vollständiger Einhaltung der gemeinsamen europäischen Werte und Erfüllung der Beitrittskonditionalitäten.
Aus der ungarischen außenpolitischen Strategie und aus der Analyse der öffentlichen Statements von Spitzenpolitikern geht hervor, dass das Engagement Ungarns bei der Unterstützung der europäischen Integration der Westbalkanstaaten vorwiegend durch nationale Interessen angetrieben wird. An erster Stelle steht in diesem Zusammenhang die sicherheitspolitische Motivation Ungarns. Wegen der geografischen Nähe der Region würde die Instabilität der Westbalkanregion die eigene Sicherheit Ungarns gefährden. Mit der europäischen Integration der Region, insbesondere Serbiens, könnte Ungarn die eigene Sicherheit längerfristig garantieren. Zweitens sollte die in Serbien lebende ungarische Minderheit erwähnt werden, die für die Orbán-Regierung eine wichtige außenpolitische Priorität darstellt. In Serbien leben ca. 254.000 Ungarn, was etwa 3,5 Prozent der Bevölkerung Serbiens entspricht. Es liegt deshalb im Interesse Ungarns, gute Beziehungen zu Serbien zu pflegen, Der EU-Betritt Serbiens würde die mit der Mitgliedschaft zusammenhängenden „Vorteile“ auch für die dort lebende ungarische Minderheit sichern. Drittens hat Ungarn starke wirtschaftliche Verbindungen zum Westbalkan. Ungarn hat in den letzten Jahren das Ziel verfolgt, die Wirtschaftsbeziehungen zur Region zu stärken und den Handel mit dem Westbalkan, insbesondere mit Serbien zu steigern. Die europäische Integration Serbiens würde auch aus wirtschaftlicher Hinsicht Vorteile für die ungarisch-serbischen Beziehungen mit sich bringen.
2. Ungarn als Rollenmodell für Serbien
Ungarn galt für einige Jahre als Musterfall einer erfolgreichen euroatlantischen Integration. Nach dem EU-Beitritt 2004 war die Politik Ungarns noch im Einklang mit den Verständnis und Werten der EU, doch mit dem Regierungswechsel unter Viktor Orbán in 2010 kam es zu einer Verschiebung hin zu einer EU-kritischen Politik. Ungarn entwickelte sich zu einem problematischen EU-Mitglied, das die EU-Vorgaben nicht länger einhält und durch ständige Kritik an „Brüssel“ unangenehm auffällt. Die EU-Kommission hat negative Entwicklungen in Ungarn u.a. in den Bereichen der Rechtsstaatlichkeit, der Justiz, der Korruption und Medienfreiheit festgestellt; also in all jenen Bereichen, die für den EU-Erweiterungsprozess zentral sind. Ebenfalls wurde ein Artikel 7-Verfahren gegen Ungarn aufgrund der Verletzung der in Art. 2 des EU-Vertrags verankerten Grundwerte eingeleitet. Das Bild Orbáns als widerspenstiger EU-Kritiker (oder auch populistischer Hardliner) verfestigte sich 2015 während der Flüchtlingskrise, als er – wie die anderen Visegrádstaaten – eine auf EU-Ebene vereinbarte Umverteilung der aus dem Nahen Osten und afrikanischen Raum stammenden Flüchtlinge strikt ablehnte. Orbán ist somit einerseits mit der EU über die Einhaltung der Werte in Konflikt, andererseits fördert er den Beitritt der Westbalkanstaaten auf Grundlage der offiziellen EU-Erweiterungsstrategie. In den Westbalkanstaaten gilt Orbán als glaubwürdiger politischer Akteur, die EU hingegen hat durch ihre zögerliche Politik bei der EU-Erweiterung ihre Vertrauenswürdigkeit bereits verspielt. Orbán fördert somit eine weitere Untergrabung der bereits beschädigten Glaubwürdigkeit der EU, was dazu führt, dass die Westbalkanstaaten mehr nach Budapest als nach Brüssel blicken. Die EU-Staaten befürchten, dass Orbán einen negativen Einfluss auf die Beitrittsländer haben könnte, da er gezeigt hat, dass Reformen wieder rückgängig gemacht werden können, wenn man einmal EU-Mitglied ist.
Für Serbien ist Ungarn ein strategischer Partner in Bezug auf den angestrebten EU-Beitritt. Die exzellenten bilateralen Beziehungen werden auch auf europäischer Ebene genutzt, um den EU-Beitritts Serbiens zu beschleunigen. Ungarn hatte den Beitrittswunsch Serbiens ab 2003 zum Anlass genommen, dessen Unterstützung von Verbesserungen beim Minderheitenschutz abhängig zu machen. Reformen wurden diesbezüglich in Serbien durchgeführt. Die enge Zusammenarbeit in diesem Bereich führte 2013 auch zur gegenseitigen Anerkennung und Entschuldigung für die getätigten Gräueltaten, die während und am Ende des Zweiten Weltkriegs in der Vojvodina verübt wurden. Orbán und Vučić scheinen auf individueller Ebene kompatible Persönlichkeiten zu sein, immerhin sind die Führungsstile beider Politiker als eher autoritär einzustufen. Die Beziehungen werden durch die seit 2014 stattfindenden jährlichen gemeinsamen Regierungstreffen gepflegt.
Bei der Zusammensetzung der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen in 2019 wurde der Umstand, dass Ungarn von den Westbalkanländern als Partner geschätzt wird, wohl berücksichtigt, und der ungarische Diplomat Olivér Várhelyi wurde mit dem Portfolio für die EU-Erweiterung betraut. In einer Ausgabe von Politico (5. Oktober 2021) wurde Várhelyi vorgeworfen, Serbiens Beitritt trotz Defiziten im Bereich der Rechtsstaatlichkeit voranzutreiben und somit die EU-Konditionalität aufzuweichen. Die Annahme wurde in den Raum gestellt, dass Várhelyi damit auch ungarische Interessen durchsetzen wollte. Es zeigt sich, dass Ungarn versucht, auf europäischer Ebene Einfluss auf die Entscheidungen zu nehmen und insbesondere Serbiens Beitritt zu beschleunigen.
Orbán wird nicht nur in Serbien, sondern in der ganzen Westbalkanregion, als „echter Freund“ bzw. „ehrlicher Makler“ wahrgenommen. Er konnte sich als regionale Führungspersönlichkeit etablieren, zum Ärgernis der schwachen EU.
3. Rückblick – serbische Parlamentswahlen in 2020
Die letzten Parlamentswahlen in Serbien fanden am 21. Juni 2020 statt. Diese waren die ersten Parlamentswahlen in Europa, die seit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie abgehalten wurden. Die Pandemie und der Ausnahmezustand in Serbien schränkten den Spielraum und die Möglichkeiten der Opposition in der Wahlkampfphase massiv ein. Dementsprechend waren auch die Voraussetzungen für die Abhaltung von freien und fairen Wahlen in Serbien nicht gewährleistet. Laut dem Bericht der Europäischen Kommission wurde unter anderem die Wahlfreiheit der WählerInnen durch die starke Medienpräsenz und die positive Darstellung der Regierungspartei in den größeren Medien eingeschränkt. Außerdem kann man feststellen, dass Präsident Vučić als Gesicht der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) bei den Parlamentswahlen galt und sogar die Parteiliste führte, obwohl er laut der serbischen Verfassung eine eigentlich überparteiliche, repräsentative Rolle ausüben sollte. Letztendlich entschieden sich die größten Oppositionsparteien dafür, die Parlamentswahlen zu boykottieren. Die SNS gewann rund 61 Prozent der Stimmen und erhielt damit 188 der 250 Sitze und eine 2/3 Mehrheit im serbischen Parlament.
Die kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Serbien stehen aber nicht nur wegen der staatlichen Entwicklung während der Pandemie unter besonderer internationaler Beobachtung, sondern auch wegen der sinkenden Qualität der Demokratie des Landes. Serbien wird von dem Demokratieindex Freedom House seit 2019 als ein „teilweise freier“ Staat kategorisiert und das aktuelle Regime unter Aleksandar Vučić wird ebenfalls seit 2019 als ein „Übergangs- oder hybrides Regime“ eingestuft.
Wegen der sinkenden Qualität der Demokratie in Serbien, der Nichterfüllung der Voraussetzungen für freie und faire Wahlen, sowie damit verbunden wegen dem Ergebnis der letzten Wahlen sprach der Politikwissenschaftler Vedran Dzihic über einen „de facto Einparteienstaat“ und eine „Phantom-Demokratie“ in Serbien.
4. Prognosen für die kommenden serbischen Wahlen am 3. April 2022
Die politische Situation beider Länder zeichnet sich durch eine schwache Opposition und dominante Regierungen aus. Der serbische Präsident Vučić verkündete, vorgezogene Parlamentswahlen gleichzeitig mit den regulären Präsidentenwahlen am 3. April 2022 abhalten zu wollen. Beobachter meinen, dass durch die vorzeitige Abhaltung der Parlamentswahlen, seine Regierung mehr Legitimität erhalten würde, da die letzten Parlamentswahlen im Sommer 2020 von der Opposition boykottiert wurden.
Laut einer Umfrage der Agentur Factor Plus Ende Januar 2022 werden ca. ein Drittel der serbischen Wahlberechtigen nicht zur Wahl gehen, 16 Prozent sind noch unentschlossen und 51 Prozent gaben an, von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen zu wollen. Die regierende serbische Fortschrittspartei (SNS) kann laut Prognose mit ca. 55,6 Prozent der Stimmen rechnen, die oppositionelle Koalition mit ca. 13,3 Prozent und die vom ehemalige Außenminister Ivica Dačić angeführte Sozialistische Partei Serbiens mit 9,2 Prozent1.
Anzunehmen ist, dass beide dominante Parteien, die SNS in Serbien und FIDESZ in Ungarn, eine Mehrheit erhalten werden. Es bleibt jedoch spannend wie hoch diese Mehrheit ausfallen wird. Die Wahl Vučić zum Präsidenten ist wohl unbestritten. Ob Ana Brnabić serbische Premierministerin bleiben wird, hängt vom „neuen“ Präsidenten ab, der gleichzeitig die Funktion des Vorsitzenden der SNS ausübt und somit die Regierungszusammensetzung mitbestimmen wird. Der EU-Beitritt Serbiens wird weiterhin auf der Tagesordnung der neuen Regierung bleiben. Fraglich ist, ob die EU-Beitrittsbestrebungen Serbiens durch die engen Beziehungen zu Orbán durch einige EU-Mitgliedsstaaten gefährdet werden.
Da für die nächsten Jahre nicht von einer Änderung an der politische Spitze beider Länder auszugehen ist, werden wir uns mit dem politischen Duo Orbán und Vučić wohl noch öfter beschäftigen müssen.
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1Danas (31.01.2022): Faktor plus: Trećina građana neće izaći na izbore u aprilu, SNS na preko 55 odsto glasova [Faktor plus: Ein Drittel der Bürger wird im April nicht zur Wahl gehen, die SNS mit über 55 Prozent der Stimmen], abrufbar unter: https://www.danas.rs/vesti/politika/faktor-plus-trecina-gradjana-nece-izaci-na-izbore-u-aprilu-sns-na-preko-55-odsto-glasova/ (Stand 12. März 2022).