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Souveränität, Demokratie, Mehrheit – Schlagworte für autokratische Absichten?
Zentrum für Demokratieforschung, Lehrstuhl für Politische Theorie und Europäische Demokratieforschung
Carl-Lutz-Vortrag von Dr. Hans-Urs Wili

Als Abschluss und gleichzeitiger Höhepunkt der Konferenz „Popular Sovereignty vs. Rule of Law – Procedures, Judicial Control, and the Legitimacy“ fand am Abend des 21. Oktober 2016 der Carl-Lutz-Vortrag von Hans-Urs Wili zum Thema „Souveränität, Demokratie, Mehrheit – Schlagworte für autokratische Absichten? Über Zuständigkeiten, Gewaltenteilung, Recht und Ethik“ an der Andrássy Universität (AUB) statt. Während sich die gemeinsam von der AUB und der Pázmány Péter Katholische Universität organisierte Konferenz primär an ein Fachpublikum richtete, stand der Carl-Lutz-Vortrag für eine breitere Öffentlichkeit offen.

Seit Gründung der AUB wird jährlich mindestens ein Carl-Lutz-Vortrag gehalten. Diese werden gemeinsam von der Schweizer Botschaft in Budapest und der AUB organisiert. Mit dieser Vortragsreihe soll Carl Lutz, dem schweizerischen Konsuls in Budapest in den Jahren 1942-45, gedacht werden, der in dieser Zeit tausenden von Juden das Leben gerettet hat. Dabei werden Themen, die sowohl für die Schweiz als auch für Ungarn für Interesse sind, der Öffentlichkeit nähergebracht. Zu den bisherigen Referenten zählten u. a. Prof. Curt Gasteyger, ehem. Bundesrat Arnold Koller, Bundesrat Moritz Leuenberger, Botschafter Walter Fust, ehem. Präsident des Internationale Komitee vom Roten Kreuz Cornelio Sommaruga, Prof. Thomas Maissen, Prof. René Rhinow, Prof. Jörg Paul Müller, Rektor der Universität St. Gallen Peter Gomez, Prof. Andreas Kley, Nationalrat Andy Gross, Dr. Gerhard Schwarz, Prof. Alois Riklin, Staatsekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch und Nationalratspräsidentin Christa Markwalder.

Mit Dr. Hans-Urs Wili ist es gelungen, einen der weltweit besten Kenner der direkten Demokratie für den Carl-Lutz-Vortrag zu gewinnen. Wili hat jahrzehntelang die Sektion Politische Rechte der Schweizerischen Bundeskanzlei geleitet. In dieser Funktion war er für die Durchführung der Wahlen und Volksabstimmungen in der Schweiz verantwortlich. Nach eigener Aussage habe er mehr als einen Sechstel aller nationalen Volksabstimmungen, die weltweit je stattgefunden haben, organisiert. Als Leiter der Sektion Politische Rechte nahm er auch eine Schnittstellenfunktion zwischen dem Staat und den Bürgerinnen und Bürgern ein. Aus diesem Grund hat Hans-Urs Wili auch zahlreiche Initiativ- und Referendumskomitees rechtlich und fachlich beraten und ihnen so geholfen, die praktisch-administrativen Hürden der Ausübung der Volksrechte zu umschiffen. Sein Fachwissen wurde in diversen in- und ausländischen Expertenkommissionen nachgefragt und er hat zahlreiche Publikationen zum Thema verfasst.

Mit Verweis auf Cicero hob Wili einleitend hervor, dass der Populismus nichts Neues sei, sich heute jedoch die technischen Möglichkeiten erweitert hätten. Im Gegensatz zu Monarchien und Diktaturen sei Demokratie aber auf Veränderbarkeit angelegt: Doch würden seit dem Zweiten Weltkrieg die USA, Japan, Kanada, Indien, Argentinien und Griechenland, die 26 Prozent der Erdbevölkerung stellen und annähernd 36 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften würden, die meiste Zeit von zwölf Familien regiert. Amtszeitbeschränkungen würden häufig mehr oder weniger direkt umgangen. Auch sei die Herrschaft von Eliten, die sich zunehmend abschlössen, ein seit langem bekanntes Phänomen.
Weltweit versprächen populistische Bewegungen Abhilfe gegen die Abschottungstendenzen der Eliten/Herrschenden. Die Erfahrungen der Schweiz als Staat mit ausgedehnten Volksrechten würden es ermöglichen, Bewertungskriterien für die Bewertung populistischer Politik zu erarbeiten. Nicht wenige Entscheidungen würden – so Wili – eine Herausforderung für das politische System darstellen.
Erster Hauptgrund für die populistischen Anreize sei die Ausweitung des Stimmrechts. Das Stimmrecht sei das Resultat eines Kampfes um Inklusion. Populismus richte sich an die Angst in Wahlrecht Aufgenommener vor dem Verlust des eigenen Einflusses. Dies schaffe Anreize für eine Politik der Exklusion und eröffne dadurch dem Populismus neue Wahlchancen. Demokratie werde heute durch selbsternannte „echte“ Vertreter des Volkes vereinnahmt, die sich durch einen Kampf gegen die repräsentativen Eliten legitimierten würden. Aber Populisten würden Probleme nicht lösen, sondern nur bewirtschaften. Mittels populistischer Initiativen würde in der Schweiz auch die Frage der Souveränität aufgeworfen. Eine rein mechanistische Interpretation der Volkssouveränität könne den internationalen Schutz der Menschenrechte aushöhlen. Schliesslich würden Populisten mit ihrem voluntaristischen Politikverständnis das System der Gewaltenteilung in Frage stellen.

Nach der Schilderung dieser problematischen Entwicklungen in der Schweiz, warf Wili einen Blick auf die britische und ungarische Praxis. Das Problem bei der britischen Praxis sei es, dass es sich bei diesen Volksabstimmungen um sog. „Plebiszite“ handle, welche den Stimmberechtigten ohne Regierungsmacht von den Inhabern ebendieser gnädig gewährt würden. Bei „echten“ Referenden hingegen würden Verfassung und Gesetz die Verfahren und den Anwendungsbereich definieren. Bei „echten“ Referenden bestehe ein antihegemonialer Durchsetzungsanspruch seitens des Volkes auf eine verbindliche Meinungskundgabe. Das ungarische System stelle ein Mischsystem dar. Ab 200.000 Unterschriften seien Volksinitiativen verbindlich durchzuführen. Bei mindestens 100.000 Unterschriften hingegen bestehe ein diskretionärer Handlungsspielraum von Regierung und Parlamentsmehrheit. Schliesslich sei die Möglichkeit der Anordnung des Referendums auf Initiative der Regierung und des Staatspräsidenten als plebiszitäre Elemente zu klassifizieren. Die populistische Versuchung brächte beim Plebiszit die Regierung und beim Referendum die lancierenden Gruppen auf die Idee, Erfolge einzuheimsen, welche Minderheiten belasten und die Mehrheit unbehelligt liessen. Wili meinte, dass diese Tendenz auch in der Schweiz zunehme, aber immer noch eine Minderheit der Fälle repräsentiere.

Wie könne also die Pervertierung der Demokratie durch plebiszitäre direkte Demokratie verhindert werden? Normen allein würden nicht genügen, sondern sie müssten durch bürgerschaftliches Engagement ergänzt werden, so Wili. In seinem Traktat „Über die Freundschaft“ bilanzierte Cicero die engagierte Intervention eines Kollegen gegen populistische Volksverführer sechs Jahre vor seinem Konsulat: Auch in der Volksversammlung, „wo Verstellung und Verschleierung den meisten Spielraum haben“, siege nach Cicero „dennoch die Wahrheit …, wenn sie nur offen dargelegt und ins rechte Licht gerückt wird …“. Anders als in Autokratien hätten Bürgerinnen und Bürger in der Demokratie immerhin ein Instrumentarium, um Rechtsstaatlichkeit auch tatsächlich aus eigener Kraft aufrecht zu erhalten – vorausgesetzt, sie würden sich dieser Aufgabe auch stellen.

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