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Prof. Brauneder über den Zerfall und die Kontinuität von Österreich-Ungarn 1918
Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe „Desintegrationsprozesse in Europa”

Der dritte Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe des Donau-Instituts der Andrássy Universität Budapest (AUB) „Desintegrationsprozesse in Europa” wurde von Univ. Prof. Dr. Wilhelm Brauneder (Universität Wien) mit dem Titel „Österreich-Ungarn 1918: Zerfall und Kontinuität” am 11. Dezember 2013 im Andrássy-Saal gehalten.

Prof. Dr. Ellen Bos, Leiterin des Donau-Institutes begrüßte die Gäste und wies auf die Aktualität der Vortragsreihe in Hinblick auf den Integrationsprozesse der EU hin. Der Zerfall der Donau-Monarchie stellt im Donauraum ein zentrales Fallbeispiel für einen Desintegrationsprozess dar.

Prof. Brauneder erläuterte in seinem Vortrag den staatsrechtlichen Desintegrationsprozess der Donau-Monarchie und stellte dabei die Frage nach Elementen der Kontinuität und der Diskontinuität. Österreich-Ungarn existierte bis Oktober 1918 als Realunion zweier Staaten (mit Bosnien und der Herzegowina als Gebieten mit Sonderstellung), namentlich den „im Reichsrat vertretenen Königreichen und Länder“ (Österreich, inoffiziell Cisleithanien) und den „Länder der heiligen ungarischen Stephanskrone“ (Ungarn, inoffiziell Transleithanien), die von einem Monarchen in Personalunion regiert wurden. Die gesamtstaatlichen Agenden der beiden Länder blieben dabei auf die Außenpolitik, das Finanzwesen und das Kriegswesen beschränkt, welche von den gemeinsamen Ministerien geregelt wurden. Über die genaue Gestaltung des Staatswesens herrschten beiderseits der Leitha jedoch verschiedene Ansichten. Während man in Wien Österreich-Ungarn stets als einen aus zwei Teilen bestehenden Gesamtstaat betrachtete, ging man in Budapest von zwei getrennten Staaten aus, die vom Monarchen in Personalunion regiert wurden.

Der eigentliche staatsrechtliche Zerfall begann mit dem „Völkermanifest” von Kaiser Karl I. vom 16. Oktober 1918, in dem eine Verfassungsänderung für Cisleithanien angekündigt wurde. Dabei sollte der Einheitsstaat in einen Bundesstaat umgebaut werden, in dem jede Nationalität in ihrem Siedlungsgebiet Autonomie erhalten sollte. Die Idee einer Föderalisierung der Habsburgermonarchie war bereits in der Vergangenheit mehrfach propagiert worden, erwies sich jedoch im Oktober 1918 als ungeeignet den staatlichen Zusammenhalt Österreich-Ungarns zu retten. So sah Ungarn, obwohl von der Maßnahme nicht betroffen, in dem Schritt eine formalrechtliche Begründung für eine Auflösung der Realunion zwischen den beiden Reichshälften. Konkret argumentierte man, dass sich durch die Proklamation des Völkermanifests der staatsrechtliche Charakter Cisleithaniens geändert habe, was Ungarn das Recht geben würde, die Realunion zu kündigen. Dieser Schritt wurde vom Kaiser de facto anerkannt, der nun versuchte, zumindest die Personalunion der beiden Staaten aufrechtzuerhalten. Die vor diesem Hintergrund vorgenommene Ernennung von Erzherzog Josef zum Homo Regius in Ungarn erwies sich jedoch aufgrund der folgenden Ereignisse schon bald als gegenstandslos.

Ende Oktober/Anfang November wurden auf dem Gebiet von Cisleithanien kurz hintereinander mehrere neue Staaten ausgerufen, darunter die Tschechoslowakische Republik, die Republik Deutschösterreich und der SHS-Staat (der Königreich Jugoslawien). Am 11. November 1918 verzichtete Kaiser Karl in einer Erklärung auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften Deutschösterreichs, am 13. November erklärte er auch seinen Regierungsverzicht in den Ländern der ungarischen Krone. Aus staatsrechtlicher Sicht ergaben sich nun im Fall von Ungarn und Deutschösterreich unterschiedliche Entwicklungen. In Ungarn, das formell als Einheitsstaat bestehen blieb und, mit Ausnahme der kurzen Phase der Räterepublik 1919, die Königsherrschaft beibehielt, existierte trotz erheblicher Gebietsverluste eine staatsrechtliche Kontinuität zu Transleithanien, ein Umstand, den König Karl später als formaljuristische Begründung für zwei erfolglose Restaurationsversuche nutzte. Deutschösterreich hingegen ging als neuer Staat aus der Erbmasse Cisleithaniens hervor, wobei sich die unter Berufung auf das von Präsident Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker gestellten Gebietsforderungen des Landes nur teilweise durchsetzen ließen (Verlust Südtirols, der Untersteiermark sowie Südböhmens / Südmährens).

Mit der Konstituierung der Nachfolgestaaten wurden neue Grenzen gezogen und neue Währungen eingeführt. Der Währungszerfall wurde zum Teil auch für Devisenspekulationen ausgenutzt. Eine deutliche Diskontinuität kann demnach auch in Hinblick des früheren österreichisch-ungarischen Wirtschaftsgebietes sowie der gemeinsamen Währung festgestellt werden. Mit dem Zerfall der Monarchie begann darüber hinaus ein wirtschaftlicher Desintegrationsprozess in Zentraleuropa, welcher eine wirtschaftliche Krise sowie umfangreiche Restrukturierungsmaßnahmen mit sich brachte, etwa auch im Bereich des Verkehrswesens. Durch die zwangsläufige Neupositionierung der getrennten Wirtschaftsgebiete änderten sich die Verkehrsströme in Zentraleuropa drastisch, traditionelle Hauptstrecken (wie etwa Wien – Karlsbad, Wien – Bratislava – Budapest oder Wien – Marburg –Triest) sanken zu provinziellen Linien herab. Vor allem in Wien wurden dadurch zahlreiche ehemalige Hauptbahnhöfe funktionslos, bisher weniger wichtige Stationen (z.B. Westbahnhof und Südbahnhof in Wien) gewannen an Bedeutung. „Aus Budapest kommt man fortan in Wien am Westbahnhof und aus Wien in Budapest am Ostbahnhof an“, so Brauneder.

In jenen Gebieten, die bereits bestehenden Nationalstaaten zugeschlagen wurden (Südtirol, Siebenbürgen) wurde die österreichische Rechtsordnung aufgehoben, es ist also von einer formellen Diskontinuität zum Habsburgerreich zu sprechen. Gleichzeitig lehnten sich mehrere neue Nationalstaaten (Tschechoslowakei, Deutschösterreich, Ungarn) erheblich an die früheren österreichisch-ungarischen Rechtsnormen an, wodurch hier zumindest in Teilbereichen (Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch) von einer Kontinuität gesprochen werden kann. Eine Diskontinuität ist jedoch in allen Staaten in Zusammenhang mit den Minderheitenschutzartikeln festzustellen, diese wurden von den meisten Nachfolgestaaten trotz gegenteiliger Bestimmungen in den Friedensverträgen nicht zur Grundrechte erhoben. Schwierigkeiten ergaben sich darüber hinaus in all jenen neu entstandenen Staaten, die sich aus Territorien verschiedener Länder zusammensetzten, also in Polen (Deutschland, Russland, Cisleithanien) und dem SHS-Staat (Cisleithanien, Transleithanien, Bosnien, Serbien, Montenegro), wo je nach Territorium unterschiedliche Rechtsnormen in Kraft blieben, was die Staats- und Justizverwaltung erheblich verkomplizierte.

Was das Staatswesen und die Staatsformen anbelangt, gab es in der Regel in keinem der Nachfolgestaaten eine Kontinuität, wurden doch fundamental neue Staatsformen etabliert. Die Staatsform der demokratischen Republik, die von den meisten Nachfolgestaaten gewählt wurde, hatte in der Region keine Tradition und wurde von den einzelnen Nationen in Folge unterschiedlich weiterentwickelt. So wurden etwa in Österreich 1919, 1920 und 1929 große Verfassungsänderungen durchgeführt, durch die sich (zumindest formell) die Macht von der Volksvertretung stärker zum Staatsoberhaupt (dem Bundespräsidenten) verschob. Letztlich wurde die Demokratie in sämtlichen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie mit Ausnahme der Tschechoslowakei im Laufe der 1930er Jahre jedoch zunehmend abgebaut und letztlich durch zentralistisch-diktatorische Regierungsformen verdrängt.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass mit der Auflösung des Habsburgerreiches im Oktober / November 1918 keine so klare Trennung der Staats-, Rechts- und Wirtschaftsordnung einherging wie sie im Sinne der erfolgten territorialen Neuordnung Mitteleuropas notwendig gewesen wäre. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, wie etwa die Trennung Tschechiens und der Slowakei im Jahr 1993, zeigen deutlich, das man aus diesen Fehlern gelernt hat.

Dem Vortrag schloss sich eine rege Diskussion zwischen Prof. Brauneder und dem Publikum über Desintegrationsprozesse im Allgemeinen sowie über ausgewählte Fragen rund um die Auflösung Österreich-Ungarns im Speziellen an.

Text: Henriett Kovács, Richard Lein

Die Veranstaltung wurde vom Projekt TÁMOP-4.2.2/B-10/1-2010-0015 unterstützt.

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