In Deutschland ist der Markt für Orphan Drugs stark reglementiert. Einerseits ist es wünschenswert, dass jeder Patient unabhängig von seinem Einkommen die für ihn notwendige Arzneimittelversorgung erhält, andererseits stehen dafür nicht unbegrenzt öffentliche Mittel zur Verfügung. Deshalb ist es unabdingbar, zwischen den individuellen Interessen und den gesellschaftlichen Interessen abzuwägen.
In diesem Forschungsprojekt wird dieses Thema am Beispiel der Orphan Drugs diskutiert. Orphan Drugs sind Medikamente zur Behandlung seltener Erkrankungen. Als selten gilt eine Krankheit innerhalb der Europäischen Union, wenn sie nicht mehr als fünf von 10 000 Personen betrifft. Die im Jahr 2000 eingeführte europäische Orphan Drug-Verordnung [Verordnung (EG) Nr. 141/2000] setzt Anreize zur Forschung und Entwicklung innovativer Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen, da die Deckung der Forschungs- und Entwicklungskosten aufgrund der geringen Marktgröße unter den üblichen Marktbedingungen nicht möglich erscheint. Medikamente, die von der europäischen Arzneimittelagentur eine Orphan Drug Zuerkennung erhalten haben, kommen in den Genuss von finanzieller als auch administrativer Hilfestellung wie z.B. eine auf maximal zehn Jahre befristete Marktexklusivität. Die Marktexklusivität gilt erst ab der Zulassung und nicht wie bei anderen Arzneimitteln ab dem Anmeldedatum des Patents. So ist der Wettbewerb für einen deutlich längeren Zeitraum ausgeschlossen. Gleichzeitig greift der Staat in die Preisbildung von Orphan Drugs zur Kostendämpfung ein, damit auch langfristig die Erstattung von Arzneimitteln durch die Solidargemeinschaft gesichert ist. In diesem Zusammenhang findet seit 2011 durch das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) eine nutzenbasierte Preisvereinbarung für neue Arzneimittel nach dem Prinzip „Money for Value“ statt.
Aufgrund der Reglementierungen sind die Umsätze von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen seit 2007 sechsmal so stark gestiegen wie die Umsätze aller anderen Arzneimittel. Des Weiteren wird prognostiziert, dass der Umsatzanteil der Orpan Drugs von 2019 bis 2024 von 7,3% auf 20% des Bruttoumsatzes aller pharmazeutischen Erzeugnisse des gesamten GKV-Arzneimittelmarktes steigen wird. Als Ursache dafür werden Fehlanreize vermutet. Allerdings ist ein Teil des Umsatzanstiegs auch auf den medizinisch-technischen Fortschritt zurückzuführen, der es den pharmazeutischen Unternehmen ermöglicht, auch Arzneimittel für bestimmte Subgruppen seltener Krankheiten zu entwickeln (vor allem für Krebspatienten), die dann teilweise sogar nach der Marktzulassung einen Blockbuster Status erreichen. Aufgrund der EU-rechtlichen Rahmenbedingungen ist es möglich, Teilindikationen häufig vorkommender Erkrankungen über bestimmte Merkmale so zu definieren, dass sie unter die Definition von seltenen Erkrankungen fallen (sogenanntes splicing oder Orphanisierung). Viele Organisationen fordern deshalb Reformen, um einen weiteren Missbrauch bestehender Regularien zu vermeiden.
Aus diesem Grund wird die beschriebene Entwicklung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Effizienz als auch unter dem Gesichtspunkt der Verteilungswirkungen in der Arbeit analysiert. Dabei werden verschiedene Stakeholder, wie zum Beispiel die pharmazeutische Industrie, die Krankenkassen und die Patienten hinsichtlich deren Interessen und Zielsetzungen untersucht. Die Vermutung liegt nahe, dass die pharmazeutische Industrie einen Anreiz hat, möglichst viele Arzneimittel als Orphan Drugs einzustufen, um unter anderem in den Genuss der zehnjährigen Marktexklusivität zu kommen.
Betrachtet man im Detail den deutschen Markt, so fällt auf, dass genau dieser für Pharmafirmen im EU-Vergleich sehr lukrativ ist. In Deutschland ist die höchste Anzahl an Orphan Drugs dauerhaft zugelassen und sie sind am Markt auch am schnellsten verfügbar. Zudem werden in innerhalb der Europäischen Union in Deutschland die höchsten Orphan Drug-Umsätze je Einwohner geniert. Zu vermuten ist, dass unnötig viele Ressourcen in die Forschung und Entwicklung von Orphan Drugs gelenkt werden und diese Ressourcen für die Entwicklung anderer Arzneimittel fehlen. Darüber hinaus müssen die Patienten nicht persönlich für die Kosten der Orphan Drugs aufkommen. Dies hat wiederum zur Folge, dass die Nachfrage weitgehend preisunelastisch ist, mit Ausnahme der relativ geringen zu entrichtender Zuzahlung. Dadurch entsteht für die Patienten der Anreiz, soviel wie möglich an Bedürfnisbefriedigung „kostenlos“ aus dem System herauszuholen.
Auch liegt es nicht in der Entscheidungsmacht der Patienten, welche Arzneimittel ihnen verschrieben werden, denn dies entscheiden die Ärzte, die ebenfalls nicht für die Kosten der Arzneimittel aufkommen müssen. Die Krankenkassen als Stakeholder sind gesetzlich verpflichtet, die Kosten der versicherten Patienten zu übernehmen. Dies könnte zur Konsequenz haben, dass eine Einkommensumverteilung von den Krankenkassen bzw. ihren Beitragszahlern zu den pharmazeutischen Unternehmen stattfindet.
Es ist auch festzustellen, dass in Deutschland die Preise der Orphan Drugs bei der Markteinführung deutlich höher sind als im Rest der Europäischen Union. Deshalb ist auch davon auszugehen, dass besondere Anreize für pharmazeutische Unternehmen zum Lobbyismus bestehen. In dieser Forschungsarbeit werden sowohl die Fehlanreize, als auch die dadurch hervorgerufenen Verteilungswirkungen analysiert. Dabei spielen Gesichtspunkte wie Marktmacht und Marktversagen und ethisch-moralische Überlegungen eine Rolle.
Der Markt für Gesundheitsgüter, also auch für Arzneimittel, ist ein Markt mit Marktversagen, da externe Effekte, ein Optionsgutcharakter medizinischer Leistungen sowie auch Gründe für das Fehlen von Konsumentensouveränität und unvollkommene Information vorliegen. Darüber hinaus kommt es zu Monopol- und Oligopolsituationen. Nach der abgeschlossenen Analyse der allokativen und distributiven Effekte sollen mögliche Veränderungen diskutiert werden, um das Ergebnis für die deutsche Volkswirtschaft zu verbessern. In der Vergangenheit hat der Gesetzgeber für die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherungen zum Beispiel Zuzahlungen für Arzneimittel eingeführt, die zukünftig durch höhere Selbstbeteiligungen ergänzt oder auch ersetzt werden könnten.
Am Ende der Arbeit werden konkrete politische Handlungsempfehlungen gegeben.
Ursula Jakob
Doktorandin