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"Keiner war schon immer hier"
Bericht zur Serbien/Kroatien-Exkursion der Fakultät MES

Budapest – Kecskemét - Subotica – Zenta - Novi Sad - Sremski Karlowski - Fruska Gora –Peterwardein – Vukovar – Ossijek - Budapest

30. Mai 2012

Die nordserbische Region Vojvodina wird landläufig „schwäbische Türkei“ genannt. Beide Attribute verweisen auf Völkergruppen, die zwar mal da waren, aber längst gegangen wurden, die Türken 1696 nach der Schlacht bei Zenta,

das Schicksal der Ungarn nahm eine glückliche Wendung,

die Schwaben, die nach den Türken gerufen wurden, gingen wieder, ebenso unfreiwillig, nach dem II. WK. Mein Vater hatte so lange gezaudert, soll er gehen, soll er nicht gehen, bis er schließlich geholt wurde,

Geschichte schreiben heißt, Netze auswerfen.

Zuweilen fühlt man sich in der Region wie ein Ruinentourist. Wären da nicht die feuchtfröhlichen Exemplare in der hintersten Busreihe, die ihren sogenannten Alkoholpegel auf einem konstant hohen Niveau halten und ihre heiteren Inspirationen dankbarer Weise mit ihren Sitznachbarn teilen – es stellte sich für kurze Zeit Euphorie, also unmotiviert gutes Allgemeinbefinden ein - könnte man dem angebrochenen Gedanken nachhängen, dass einem aufdringlich unwissenden Blick auf so trübe Geschichte an sich etwas Vulgäres anhaftet.

Subotica, einst: Maria Theresiopel,

nach dem Ende der Monarchie musste man wieder die Fäden aufnehmen, und natürlich musste man die Frage stellen: kann etwas, das so klein ist, überhaupt noch Österreich sein?

auch in ungarischer Übersetzung (Szabadka) „die kleine Freie“ genannt, wurde nach der Belagerung der Osmanen systematisch wiederbesiedelt, Schwaben, Slowaken, Ungarn, Ruthenen, noch heute sollen es 16 verschiedene Ethnien sein. Pavillons aus der Zeit der Jahrhundertwende erinnern an die allgegenwärtige Option des Untergangs jedweder Kultur, sogar der nationalen, wenn man so will (oder auch nicht). Nach dem Vertrag von Trianon eine Grenzstadt, Peripherie, Balkan, Südosteuropa, das Rathaus im Jugendstil, der blaue Brunnen im Zentrum aus ungarischem Porzellan (Zsolnay), und für einen Euro bekommt man 115,25 Dinar (Achtung: nicht zu viel wechseln, da es nicht mehr zurück getauscht wird), die Straßen sind nach den üblichen Helden benannt, mein Vater war ein berühmter Krieger etc.,

da lenkt sich das Gespräch auf: „Heldenplatz“, ein Theaterstück von Thomas Bernhard. Bis 1991 haben sich die Österreicher als „erstes Opfer“ des NS-Regimes wahrgenommen und vor das Burgtheater wurden dann Mistkarren gefahren, wegen der „Nestbeschmutzung“ und so. Wieso, Österreich Mittäter? Also,

Täter und Opfer, das ist eine Sache für sich, da hat ja eh jeder einen anderen Blick für. Und die Wahrheit anderer kann einem nicht teuer sein, wenn sie der eigenen Unwahrheit entgegensteht.

Oder,

wir haben gelernt, dass ihr das Volk unterdrückt habt. Du hast es auch gelernt!

In Subotica: ist die Franziskanerkirche geschlossen, die serbisch-orthodoxe nicht weiter auffällig, und die Synagoge ein großes verfallenes Etwas, das umgedeutet werden soll, darauf verweisen die davor aufgetürmten Ziegel, in ein Kulturzentrum, was wiederum erinnert an die Synagoge in Kecskemét, die heute „Haus der Technik“ heißt.

M.a.W.: Religion&Identität – die alten Fundamente bröckeln, nichtsdestotrotz ist mein Ahne Miklós nicht aus irdischer Berechnung Katholik geworden.

Des Weiteren, was man aus dem Bus halt so mitkriegt: alles sehr ländlich, landwirtschaftlich geprägt, Pferdewagen, Ochsenkarren, Straßenschilder nach Orom, Tresnjevac, ein alter Mann auf einem Traktor.

Wer kann, zieht hier weg, erzählt mir eine ruthenische Verkäuferin in Subotica. Nach England oder Österreich. Hier gibt’s nix, 90%Ungarn, hohe Arbeitslosigkeit, ständig wird wo eingebrochen. Mein Vater sagt, früher waren die Menschen auch arbeitslos, das war normal, fast alle waren arbeitslos, Tagelöhner, Feldarbeiter. Nein, mein Sohn, wir sind nicht arm, wir leben nur in Armut. Einmal stahl unsere Mutter, sie stahl Kartoffeln, und sie wurde erwischt. Sie weinte.

31. Mai 2012

In einem Klostergarten irgendwo in Serbien auf einem Ast sitzend und Exkursions-irrelevanten Themen nachhängend…plötzlich fängt eine Gruppe junger männlicher Besucher an, orthodoxe Gesänge anzustimmen, mit einer Inbrunst! Ich antworte mit einem Anflug ontologischer Wehmut…die Steine sind das eine und diese innere Freiheit das andere.

1.Juni 2012

Im Kloster in Vukovar (Kroatien) zeigt uns ein Priester einen (unzweifelhaft von  irredentistischer Propaganda geprägten) Dokumentarfilm über die serbische Besatzung in Vukovar während des Jugoslawienkrieges…“um uns zu erinnern, nicht zu vergessen“.

Die zeitgenössische Gedächtnisforschung spricht hierbei von  Geschichtsvorstellungen  als monolithischem  (R. Koselleck) und als Kulturwissenschaftler hätte man die „wichtige Aufgabe der reflektierenden Beobachtung und therapeutischen Begleitung sozialer und politischer Prozesse“ (A. Erll). Z.B. war die Wiederangliederung Siebenbürgens an Ungarn eine der bevorzugten, aber niemals in Erfüllung gegangenen Ideen meines Vaters, aber damals gab`s noch keine kulturwissenschaftlichen Therapeuten.

Im Film: Bilder vom Oktober 1991, unterlegt mit Donauwalzer-Musik (Habsburg). „Wer wird Vukovar aus der Dunkelheit hinaustragen?“ Es heißt, zwischen 1991 und 1997 wurden 600.000 oder 6.000.000 Granaten auf Vukovar geschossen.

18. November 1991, Besetzung der Stadt nach mehr als 100 Tagen Belagerung. Brennbomben und angeblich auch Giftgase, Greueltaten an Gefangenen, 200 Patienten und Pflegepersonal getötet. Lied der Serben: es wird Fleisch geben, es wird Fleisch geben, wir töten die Kroaten. Massaker…aufhängen, erschießen, in Stücke zerreißen, alles eine Frage der Einigung.

Der Priester sagt: „Kai tötet Abel [Kurutze tötet Labantze]. Die Geschichte wiederholt sich.“

Bei Vukovar trennt die Donau Kroatien von Serbien, was die Frage aufwirft, ob so ein einheitlicher Bundesstaat, wie ihn bereits Lajos Kossuth als Donaukonföderation geplant hatte, funktioniert hätte?

Zuletzt fahren wir durch die Region Syrmien, Richtung Ossijek.

Stellt die moderne Welt nicht eine Überforderung für den heutigen Menschen dar? Sind wir nicht immer irgendeiner Ideologie ausgeliefert? Ist nicht selbst die gepriesene Rationalität eine Ideologie?

Das heißt, wenn wir rationell spielen, werden wir alle verlieren, sowohl du wie auch ich, dabei könnten wir, wenn wir nach einer anderen Rationalität spielen würden, beide gewinnen, du genauso wie ich.

Und die Moral von der Geschicht, eine letzte Wahrheit gibt es nicht bzw. ist es elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit nicht kennt, oder, Männer und Frauen verhalten sich wie Schafe in der eigenen Geschichte, oder, das allgegenwärtige Machtstreben suggeriert mir, dass die Welt permanent übertreten werden muss, oder, der Mörtel der gemeinsamen Erinnerung ist der Tod, das sag ich dir, Dummerchen, oder,

Habe die Ehre,

Wyl Kyria

Kursiv Geschriebenes bleibt dem Roman „Harmonia Caelestis“ von Peter Esterhazy herzlichst zu danken.


Finden Sie hier die Bildergalerie zur Exkursion.

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