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Jewish Intellectuals and World War I
Fakultät für Mitteleuropäische Studien
Vortrag von Carsten Schapkow

In Kooperation mit der Central European University (CEU) organisierte die Fakultät für Mitteleuropäische Studien (MES) an der Andrássy Universität Budapest (AUB) am 19. Mai 2015 einen englischsprachigen Vortrag über jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, welcher sich somit sowohl in den AUB-Veranstaltungsschwerpunkt zu jüdischen Themen als auch in jenen zum Ersten Weltkrieg bestens einfügte. Als Referent konnte Carsten Schapkow gewonnen werden, Professor am Schusterman Center for Judaic and Israel Studies an der University of Oklahoma (USA), wo er deutsch-jüdische Geschichte und moderne jüdische Historiographie lehrt. Nach einer kurzen Begrüßung durch die Organisatorin Ursula Mindler-Steiner (AUB/MES) übernahm Carsten Wilke (CEU) die Moderation des Abends, der in der von Zsófia Harsányi bestens vorbereiteten Österreich-Bibliothek abgehalten wurde.

Schapkows Vortrag widmete sich jüdischen Intellektuellen, welche sich gegen den Ersten Weltkrieg aussprachen – ein Unterfangen, das zur damaligen Zeit durchaus riskant und umstritten war, herrschte doch allgemein Kriegsbegeisterung. Wenngleich der Referent zur Vorsicht bezüglich Pauschalierungen mahnte und auf das heterogene Judentum hinwies, das keinesfalls einheitlich nur „Assimilierung“ anstrebte (so muss zwischen ländlichem und städtischem Judentum differenziert werden), hielt er doch fest, dass eine überwältigende Mehrheit der deutschen jüdischen Bevölkerung in die Kriegseuphorie einstimmte und überdies hoffte, in diesem Krieg durch bedingungslose Kriegsbereitschaft für Deutschland Patriotismus beweisen und somit langfristig die Situation für die jüdische Bevölkerung verbessern zu können. Zwar hatten Juden seit 1871 Staatsbürgerrechte, waren jedoch dennoch fortwährend Diskriminierungen ausgesetzt. Die durch den von Wilhelm II. im August 1914 ausgerufenen „Burgfrieden“ („Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur mehr Deutsche.“) geweckten Hoffnungen auf ein Ende des Antisemitismus sollten jedoch letztlich zerschlagen werden, und so schwand mit der Zeit die Kriegsbegeisterung der jüdischen Bevölkerung – spätestens mit der Einführung der infamen „Judenzählungen“ 1916.

Anhand der Diskussionen zwischen den deutsch-jüdischen Intellektuellen Erich Mühsam (1878–1934) und Gustav Landauer (1870–1919), welche von Anfang an den Krieg missbilligten, sowie Landauers Freund Fritz Mauthner (1849–1923), der – zumindest anfangs – für den Krieg Propagandaartikel verfasste, veranschaulichte Schapkow  verschiedene Standpunkte, die von den diversen Parteien auf das Vehementeste vertreten wurden und letztlich sogar zum Bruch der Freundschaft zwischen Landauer und Mühsam führten. Der vom Vortragenden gesetzte Themenschwerpunkt behandelte vor allem die Frage nach der Signifikanz von Antisemitismus in diesen Debatten.

Eine der Kernthesen Schapkows besagt, dass nicht nur „Deutschland“ als „Kulturnation“ und „Heimatland“ durch die Kriegsentwicklungen in Osteuropa und durch die Immigration von osteuropäischen Juden und Jüdinnen sowie den zunehmenden Antisemitismus transformiert wurde, sondern auch Landauers, Mühsams und Mauthners eigenes Selbstverständnis als Juden. Dieses intensivierte sich im Laufe des Krieges. Im Gegensatz zu Mauthner, der aus der Kultusgemeinde ausgetreten war, versteckten Mühsam und Landauer ihr Judentum nicht, sie empfanden es als substantiellen Bestandteil ihrer Identität. Landauer sah sich als Deutscher, Jude und Europäer – Mauthner deklarierte sich als Deutscher, jedoch wurde ihm durch die Debatte mit Landauer über die Signifikanz des Krieges seine eigene jüdische Identität wieder bewusst.

Belegt durch zahlreiche Textstellen brachte Schapkow seinem Publikum die verschiedenen Standpunkte näher. Im Gegensatz zu Mauthner, der dafür plädierte, in Kriegszeiten auf philosophische Debatten zu verzichten, sah Landauer gerade darin größte Wichtigkeit. Ein weiterer Disput entzündete sich an der Frage der Einwanderung osteuropäischer Juden und Jüdinnen. Die Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges als „Kulturkrieg“ wurde zunehmend deutlicher, als die deutsche Öffentlichkeit das ostpreußische Territorium (unter preußischer Herrschaft) mit den besetzten Gebieten jenseits der Grenze verglich. Der Osten und die dort lebende jüdische Bevölkerung wurden – auch von deutschen Juden und Jüdinnen – als „unzivilisiert“ empfunden. Man war sich nicht einig, wie man mit „den Ostjuden“ verfahren sollte – man trachtete jedoch danach, ihre Einwanderung wenn möglich zu verhindern. Auch in dieser Frage vertraten Mauthner und Landauer unterschiedliche Ansichten. Landauer versprach sich von der Immigration das Ausbrechen eines Klassenkampfes in der jüdischen „Bourgeoisie“, den er als kommunistischer Anarchist befürwortete, war er doch auch der Meinung, eine „Erneuerung“ täte sowohl dem West- wie dem Ostjudentum gut. Mauthner favorisierte die Schließung der Grenzen im Osten, da er befürchtete, dass sich durch den Zuzug von „Ostjuden“ die Situation für die heimische, deutsche jüdische Bevölkerung verschlechtern würde. Mühsam wiederum warf der deutschen jüdischen Bevölkerung Realitätsverweigerung vor. Es sei ein Trugschluss zu glauben, Patriotismus ermögliche es ihr, ein integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft zu werden, auch würde die Armee keineswegs eine Integration auf einer Basis der Gleichberechtigung anbieten. Er verortete den Antisemitismus in einem transnationalen Rahmen und sah die „Judenfrage“ in Polen so bald nicht „gelöst“; auch war seine Einstellung zum polnischen Judentum ausgesprochen ambivalent, sah er in ihm sowohl „Blutsauger“ als auch intellektuelle Elite. In Mühsams Augen nahmen antisemitische Vorfälle im Laufe des Krieges zu – er stellte dies ganz allgemein im Sprachgebrauch fest, aber auch in Bezug auf die Ermordung von „Kaftanjuden“ durch deutsche Soldaten, welche darüber offen auf ihren Heimaturlauben in Deutschland berichteten. Die Antwort auf den Antisemitismus sah er im Kosmopolitismus.

Nach einer ausführlichen Erörterung der verschiedenen Standpunkte, veranschaulicht durch Bilder und Textauszüge,  schloss Schapkow seinen Vortrag mit einem kurzen Ausblick über den weiteren Werdegang der Proponenten ab (Mauthner starb 1923 über Siebzigjährig; Landauer wurde im April 1919 ermordet; Erich Mühsam wurde 1934 im KZ Oranienburg ermordet). Die Veranstaltung, die vor allem von DoktorandInnen sehr gut besucht war, wurde mit einer spannenden Diskussion beendet.

Text: Ursula Mindler-Steiner

Fotos: AUB

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