Im Juni 1989 versuchte das sozialistische Regime seine erodierende Legitimität durch die Verabschiedung eines Gesetzes über das Referendum und die Volksinitiative zu stützen. Dieses Gesetz ist bereits vor der grossen Verfassungsrevision vom Oktober 1989, mit welcher der Grundstein für die Demokratie gelegt wurde, und auch vor den ersten freien Wahlen im März/April 1990 in Kraft getreten. Damit lässt sich sagen, dass in Ungarn die direkte Demokratie älter ist als die Demokratie im eigentlichen Sinne.
Die direkte Demokratie entspricht nicht den politischen Traditionen Ungarns und stellt deswegen eine Art „Fremdkörper“ im politischen System dar. Aus diesem Grund hat die Integration und Adaption der direktdemokratischen Instrumente in den repräsentativdemokratischen Rahmen seit ihrer Einführung Probleme verursacht. In den Anfangsjahren der Demokratie kam deshalb dem Verfassungsgericht eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung der direkten Demokratie zu.
Die erste größere Anpassung des direktdemokratischen Instrumentariums erfolgte 1997: Mit der Revision der Verfassung und des Gesetzes über das Referendum und die Volksinitiative wurden das bis dahin bestehende 50-Prozent-Beteiligungsquorum durch ein 25-Prozent-Zustimmungsquorum ersetzt sowie einige prozedurale Unklarheiten beseitigt. 2011 wurde mit der Verabschiedung des neuen Grundgesetzes allerdings das 50-Prozent-Beteiligungsquorum wiederhergestellt. Überdies wurden die Agenda-Initiative und das Recht des Parlaments, eine Volksabstimmung zu initiieren, abgeschafft. Mit der Verabschiedung eines neuen Gesetzes über die Volksinitiative im Jahr 2013 wurden die Vorschriften des Grundgesetzes umgesetzt und weitere Klarstellungen hinsichtlich des Verfahrens vorgenommen. Während des durch die COVID-Pandemie bedingten Ausnahmezustands ab dem Frühjahr 2020 war die Durchführung von lokalen und landesweiten Referenden nicht gestattet. Diese Bestimmungen wurden im Juli 2021 gelockert, so dass ab diesem Zeitpunkt wieder landesweite Volksabstimmungen möglich sind. Schliesslich wurde im November 2021 das Gesetz über das Wahlverfahren sowie das Gesetz über die Volksinitiative dergestalt angepasst, dass in Zukunft Volksabstimmungen und Wahlen am gleichen Tag stattfinden können (vorher galt 40 Tage vor und nach den Parlaments- bzw. Europawahlen ein Verbot von Volksabstimmungen). Damit wurde es möglich, dass im Jahr 2022 am Tag der Parlamentswahl auch eine Volksabstimmung durchgeführt werden kann.
Im ungarischen System stellt die direkte Demokratie eine „Ausnahme“ dar und steht in einem Ergänzungsverhältnis zur dominanten repräsentativen Demokratie. Es ist das Parlament, welches über das Gesetzgebungsmonopol verfügt. Folglich kann das Volk in einer Volksabstimmung nicht über konkrete Gesetzestexte abstimmen, sondern nur eine „politische Willensäusserung“ abgeben. Ist das Referendum erfolgreich, ist dessen Resultat allerdings im politischen Sinne für das Parlament verbindlich. Dabei wird dieses in eine bloss „exekutive Rolle” relegiert und muss die durch das Referendum getroffene Entscheidung umsetzen, d.h. gesetzgeberisch tätig werden. In der Praxis laufen die repräsentativen und direktdemokratischen Prozesse nebeneinander ab. Dabei findet aber kaum eine Interaktion statt, weswegen die direktdemokratischen Instrumente kaum deliberatives Potential entfalten können.
Heute kennt Ungarn drei verschiedene Instrumente der direkten Demokratie:
Das obligatorische Referendum zum EU-Beitritt von 2003 war hingegen als einmaliger Sonderfall von Verfassung wegen vorgesehen.
Die oben gewählten Bezeichnungen sind aus der internationalen Praxis abgeleitet. Terminologisch heissen auf Ungarisch alle drei Instrumente „Volksabstimmung auf Landesebene“ (országos népszavazás). Die gebräuchliche ungarische Typologisierung ist etwas eigenwillig und weicht von der internationalen Praxis ab. Die verbindliche Volksabstimmung heisst auf Ungarisch „obligatorisches Referendum“, weil das Parlament beim Vorliegen der Gültigkeitskriterien über keinen Ermessensspielraum verfügt, sondern die Abhaltung einer Volksabstimmung beschliessen muss. Sowohl die Agenda-Initiative mit möglicher Abstimmung als auch das Plebiszit werden im Ungarischen als „fakultative Referenden“ bezeichnet, weil in diesen Fällen das Parlament über die Durchführung einer Volksabstimmung entscheiden kann.
Das Grundgesetz legt auch die verbotenen Gegenstände fest, über die keine Volksabstimmung abgehalten werden kann. Daneben sind auch zahlreiche Formvorschriften zu beachten. Das Nationale Wahlbüro führt die Vorprüfung der Zulässigkeit einer Abstimmung durch. Diese Behörde hat ein sehr formalistisches Amtsverständnis und bietet den Initianten keinerlei Unterstützung bei der Ausarbeitung und dem Wording des Initiativetexts an.
Zwischen 1989 und 2008 gab es sechs nationale Volksabstimmungen mit zwölf Fragen. Zehn Fragen wurden durch BürgerInnen ausgelöst (sieben davon waren erfolgreich, drei sind uneigentlich gescheitert, d.h. das vorgeschriebene Quorum wurde nicht erreicht). In diesem Zusammenhang gilt es allerdings darauf hinzuweisen, dass obwohl in den Rechtstexten von „Bürgern“ die Rede ist, in der Praxis bis anhin fast ausschliesslich Parteien in der Lage waren, erfolgreiche Initiativen zu lancieren. Zwei Fragen wurden entweder vom Parlament (Nato-Beitritt 1997) initiiert oder waren obligatorisch (EU-Beitritt 2003). Diese beiden Referenden waren erfolgreich.
In den Jahren 1989/90 dominierten transitionsbezogene Fragen über die zukünftige Ausgestaltung des politischen Systems die Volksabstimmungen. Die beiden Volksabstimmungen von 1997 und 2003 sind im Kontext der europäischen Integration zu verorten. In beiden Fällen konnte die politische Elite der Unterstützung durch das Volk sicher sein. Diese beiden außenpolitischen Volksabstimmungen waren eher symbolischer Natur und dienten dazu, die Westintegration Ungarns zu legitimieren. Die Volksabstimmung von 2004 kann als „quasi-normales Referendum” in einer konsolidierten Demokratie angesehen werden, bei welchem die meisten BürgerInnen nicht der Logik der parteipolitischen Polarisierung, sondern eher ihren eigenen Politikpräferenzen folgten. Mit der Volksabstimmung von 2008 verschärfte sich der Machtkampf zwischen Regierung und Opposition und die Polarisierung der Politik nahm weiter zu. Der Sieg der Opposition bei dieser Volksabstimmung hatte dieser geholfen, den Schwung bis zur Parlamentswahl von 2010 mitzunehmen, bei der sie dann auch einen überwältigenden Sieg erringen konnte. Seit diesem Zeitpunkt dominiert ein Parteibündnis von Fidesz und der Christlich-demokratischen Volkspartei (KDNP) die ungarische Politik. Wie zahlreiche internationale Demokratie-Rankings zeigen, ist es seither zu einem Bruch in der ungarischen Demokratieentwicklung gekommen, es hat eine Dekonsolidierung der Demokratie eingesetzt.
Zwischen 2009 und 2022 gab es nur eine einzige Volksabstimmung (Plebiszit), welche von der Regierung initiiert worden ist. Das sogenannte Quotenreferendum, das die Umsetzung der von der EU beschlossenen Quote zur Verteilung von Flüchtlingen verhindern wollte, ist trotz der überwältigenden Unterstützung am fünfzigprozentigen Teilnahmequorum gescheitert. Gleichzeitig mit den Parlamentswahlen von 2022 wird ein weiteres Referendum durchgeführt werden, das ebenfalls durch die Regierung initiiert wurde. Auch die Opposition hat versucht mit der Lancierung eines Referendums, ihre
Anhängerschaft zu mobilisieren. Dabei sollen folgende Fragen dem Volk vorgelegt werden:
Das von der Regierung initiierte Plebiszit folgt einem ähnlichen Muster wie das Referendum von 2016. Das ungarische Parlament hat am 15. Juni 2021 das sog. „Kinderschutz-Gesetz“ (Gesetz über das strengere Auftreten gegen pädophile Straftäter sowie zur Anpassung einzelner Gesetze zum Zweck der Schutzes der Kinder – „törvény a pedofil bűnelkövetőkkel szembeni szigorúbb fellépésről, valamint a gyermekek védelme érdekében egyes törvények módosításáról“) verabschiedet. Das ursprünglich dem Schutz der Kinder dienende Gesetz, das auch von der Opposition befürwortet wurde, wurde mit solchen Elementen angereichert, die Pädophilie und Homosexualität bewusst vermischten und dadurch dazu angetan sind, die Rechte sexueller Minderheiten zu verletzen. Dieses Gesetz wurde im In- und Ausland, vor allem auch durch die EU, stark kritisiert. Darauf reagierte die ungarische Regierung damit, dass sie eine Volksabstimmung (Plebiszit), lancierte, das dazu dienen soll, die Bestimmungen des Gesetzes zu bekräftigen. Von den ursprünglich fünf Fragen wurden vier validiert, so dass die Volksabstimmung gleichzeitig mit den Parlamentswahlen von 2022 stattfinden kann:
In der Volksabstimmung wird es darum gehen, ob die die sexuelle Aufklärung an Schulen eingeschränkt sowie die „Popularisierung“ von Geschlechtsangleichenden Eingriffen verboten werden sollte. Ausserdem sollte verboten werden, Kindern geschlechtsangleichende Therapien anzubieten. Schliesslich sollte es auch nicht mehr ohne Einschränkung möglich sein, Kindern solche Medieninhalte mit sexuellen Inhalten zugänglich zu machen, die deren Entwicklung beeinflussen könnten. Der Regierungschef begründete die Notwendigkeit für das Referendum damit, dass der EU gezeigt werden soll, dass Ungarn nicht den europäischen „Irrwegen“ folgen und seine Kinder schützen wolle. Die Referendumsfragen entbehren weitestgehend der praktischen Relevanz, sind doch die monierten Praktiken wegen des Kinderschutzgesetzes verboten. Es ist somit unklar, welche gesetzgeberische Verpflichtung sich für das Parlament ableiten liesse, sind doch die Fragen so formuliert, dass im Falle einer erfolgreichen Volksabstimmung keine neuen Regelungen notwendig wären. Allerdings zeigt sich an diesem Beispiel sehr gut, dass die Regierung das Instrument der Volksabstimmung instrumentalisiert. Das Thema der Volksabstimmung ist symbolisch geladen und stellt einen „Trigger“ im identitätspolitischen Konflikt in Ungarn dar. Es ist geeignet, die Bevölkerung zu polarisieren und die Anhängerschaft der Regierungsparteien zu mobilisieren. Auffällig ist auch, dass die Ankündigung der Volksabstimmung mit dem Pegasus-Skandal zusammenfiel, in welchem bekannt wurde, dass die Regierung, die Abhörsoftware Pegasus gegen (vermeintliche) Gegner des Regimes exzessiv eingesetzt hat. Schliesslich illustriert auch die Positionierung des Referendums als Abwehrinstrument gegen die „Übergriffe“ der EU das geschickte „two-level game“ der Regierung. Einerseits holt sie sich Rückendeckung zu den Konflikten mit der EU und gleichzeitig präsentiert sie sich gegen innen als Verteidigerin ungarischer Interessen. Aus rechtstaatlicher Sicht problematisch ist auch die Tatsache, dass die Regeln im laufenden Verfahren geändert wurden. Erst damit wurde es möglich, Plebiszit und Parlamentswahlen an einem Tag durchzuführen. Mit der gewählten Thematik lässt sich eine grosse Mobilisierungswirkung für die Regierungsseite erwarten.
Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, dass in Ungarn seit 2008 das Interesse an direkter Demokratie abgenommen habe. Dem ist aber nicht so. Vielmehr sind starke Gate-keeping-Mechanismen am Werk: Einerseits kann das Parlament durch legislatorische Manöver Volksabstimmungen verhindern, indem es etwa beanstandete Gesetze formell (d.h. bloss verbal) verändert oder selbst anstelle der Initiative entsprechende Regelungen erlässt (die aber nicht dem intendierten Anliegen der Initianten entsprechen müssen). Darüber hinaus findet auch durch das Nationale Wahlbüro und die Gerichte ein starkes Gate-keeping statt. So wurden dem Nationalen Wahlbüro zwischen 2012 und Juni 2016 328 Begehren unterbreitet. 95 Prozent dieser Begehren wurden zurückgewiesen und nur fünf Prozent wurden validiert (allerdings sind diese dann zumeist an der Hürde der notwendigen Unterschriften gescheitert). Die wichtigsten Gründe für die Ablehnung waren mangelnde Eindeutigkeit des Initiativtexts (62 %), weitere formale Fehler (48 %), Verletzung der Bona fides (16 %) sowie Anliegen, die inhaltlich nicht zulässig waren, da sie nicht in den Kompetenzbereich des Parlaments fielen (12 %).
Neben der Verhinderung von Volksinitiativen ist die Regierung auch bestrebt, ihre Anhänger mittels pseudo-partizipativen, von oben kontrollierten Instrumenten zu mobilisieren. Zum einen kann die Regierung sogenannte Informationskampagnen führen, die nichts anderes als Regierungspropaganda darstellen. Einerseits werden dabei öffentliche Gelder für Parteipolitik eingesetzt, andererseits wird die strenge Regulierung von politischen Kampagnen ausserhalb des Wahlkampfs umgangen (es handelt sich ja formal nicht um Kampagnen, sondern um ‘objektive Information’). Solche „Informationskampagnen” wurden beispielsweise zur Bekanntmachung der Erfolge der Regierung zum Themenkomplex „Migration und Terrorismus”, zur Migrantenquote, zum sogenannten „Soros-Plan” und den „Absichten Brüssels” abgehalten. Daneben hat die Regierung mit dem Instrument der „Nationalen Konsultation” ein Verfahren geschaffen, das vorgeblich dem Dialog zwischen Regierung und Bevölkerung dient, aber völlig intransparent durchgeführt und ausgewertet wird. Meist werden suggestive Fragen gestellt, die darauf angelegt sind, in der Bevölkerung bestehende Vorurteile (gegen Gegner der Regierung) zu verstärken. Zwischen 2010 und 2022 haben 11 Nationale Konsultationen stattgefunden. Dabei wurden Themen wie „Immigration und Terrorismus”, „Stop Brüssel”, „Soros Plan” etc. diskutiert.
Abschliessend lässt sich festhalten, dass die direkte Demokratie in Ungarn an konzeptionellen Mängeln krankt und nur über ein beschränktes Potential verfügt. Der Einsatz der direktdemokratischen Instrumente folgt der Entwicklung der ungarischen Demokratie. Seit 2010 lässt sich dabei eine verstärkte „Kolonialisierung der direkten Demokratie” beobachten. Die Einreichung von Volksinitiativen und die Durchführung von Volksabstimmungen werden mittels Manipulation und einem starken Gate-keeping be- oder verhindert. Anstelle eines echten Dialogs zwischen Bürgern und Regierung tritt eine gelenkte Interaktion und eine permanente Kampagne seitens der Regierung. Die wichtigste Funktion der direkten Demokratie ist somit, dass sie ein wenig Unsicherheit ins politische Spiel bringt und im Notfall eventuell als Sicherheitsventil dienen könnte. Daneben kann sie auch ein Instrument zur Mobilisierung der Bevölkerung darstellen. Insgesamt wird klar, dass die direkte Demokratie eine abhängige Variable der Demokratiequalität darstellt und sich im Gleichklang mit deren Schwankungen entwickelt.
Zoltán Tibor PÁLLINGER