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Die Komplexität Jüdisch zu sein. Antisemitismus – und andere Herausforderungen.
Diskussionsabend an der AUB.

Am Donnerstag, den 7. November 2013 fand der 3. Diskussionsabend mit dem Titel „Die Komplexität Jüdisch zu sein. Antisemitismus – und andere Herausforderungen“ in der Reihe „Wessen Problem ist es? Zur Frage des Antisemitismus im gegenwärtigen Ungarn“ im Andrássy-Saal der Andrássy Universität Budapest (AUB) statt. Die ausgesprochen gut besuchte erste Paneldiskussion, die am 16. Mai d. J. stattgefunden hatte, bezeugte ein reges Interesse am Thema, sodass die Reihe im Herbst fortgesetzt wurde (der geplante 2. Abend zum Thema Religionsgemeinschaften und Antisemitismus musste leider abgesagt werden).

Die Reihe nähert sich der Thematik aus verschiedenen Perspektiven an; als Diskutantinnen und Diskutanten wirken in Ungarn lebende Expertinnen und Experten. Die Veranstaltungsreihe wird von Ursula Mindler (AUB / Fakultät für Mitteleuropäische Studien) und Eszter Lányi (HAVER) konzipiert und organisiert, wobei als Kooperationspartner MitarbeiterInnen der wichtigsten Budapester Universitäten gewonnen werden konnten: Károly Dániel Dobos (PPKE), Michael Miller (CEU), Kata Zsófia Vincze (ELTE), Tamás Lichtmann (ORZSE), Katalin G. Kállay (KRE) und Christopher Walsch (CUB).

Eröffnet wurde der Diskussionsabend, der in ungarischer Sprache mit Simultandolmetschen ins Deutsche abgehalten wurde, von Ursula Mindler, die einen kurzen Überblick über die Genese der Veranstaltungsreihe gab. Anschließend wurde das Wort an Eszter Lányi übergeben, welche als Moderatorin durch den Abend führte. Das hochkarätig besetzte Podium bestand aus der Philosophin Ágnes Heller (ELTE), dem Literaturwissenschaftler Tamás Lichtmann (Rabbinerseminar) sowie Ádám Schönberger, dem Vorsitzenden des Vereins MAROM („Himmel“, „Höhe“).

Die erste Fragerunde ging einer möglichen Definition von „Jüdischer Identität“ nach, wobei sich rasch herauskristallisierte, dass eine solche nicht möglich ist. Was bedeutet „Jude sein“? Erwähnt wurden unter anderem existenzielle, kulturelle, religiöse Aspekte. Heller betonte, dass es im Judentum kein Dogma gibt und dass zig Möglichkeiten bestünden, die Tora zu interpretieren. Schönberger hielt fest, dass es letztlich eine Frage der Selbstdefinition sei und dass er mit seinem Verein versuche, durch Schaffung einer Gemeinschaft zu definieren, was Judentum sei. MAROM hat es sich zum Ziel gesetzt, das jüdische kulturelle Erbe zu re-interpretieren, zeitgenössische jüdische Kultur zu schaffen und zu fördern sowie interkulturellen Dialog durch Kultur und Kunst zu unterstützen.

Angesprochen wurde auch, dass es in Ungarn nach der Shoa, der über eine halbe Million Ungarinnen und Ungarn zum Opfer gefallen waren, nicht genügend Hilfe zur Überwindung des Traumas gegeben hatte, sodass sich eine Auseinandersetzung mit jüdischer Identität mehrfach schwierig gestaltete. Die Shoa machte eine kontinuierliche Tradition und Geschichte, auch im familiären Bereich, unmöglich – so fehlen in den privaten Fotoalben der 1940er und 1950er Jahre naturgemäß Bilder und Informationen zu jüdischen Familienmitgliedern. Zwar kehrten, im Gegensatz zu Deutschland, Juden und Jüdinnen nach dem Kriegsende nach Ungarn zurück, doch verheimlichten sie ihr Judentum, sodass die geistige Kontinuität gebrochen wurde.

Die Shoa-Überlebende Ágnes Heller betonte die Wichtigkeit von Erinnerungskultur, und dass das Judentum reich an kulturellen Erinnerungen (Chanukka, Sederabend etc.) sei, die Erinnerung an Auschwitz aber nicht in derselben Weise Bestandteil der jüdischen Geschichte sei wie beispielsweise das Verlassen von Ägypten. Sie mahnte ein, dass Auschwitz im ungarischen Judentum etwas symbolisiere, das es zu bewahren gilt – obwohl es dabei nicht um das Leben, sondern um den Tod geht. Letztlich sei es eine Frage der Denkweise, welches Verhältnis man selbst zu seiner Erinnerung, auch zu Auschwitz, habe. Schönberger warf ein, dass aber auch die Frage, wie über Antisemitismus oder Auschwitz gesprochen wird, wichtig ist, ebenso, wie darauf reagiert wird, da dies die identitäre Bindung zum Judentum beeinflusse. So versuche er mit seinem Verein diese Themen in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und eine Diskussion in Gang zu bringen, „damit überhaupt einmal darüber gesprochen wird.“ Angesprochen wurde auch, dass das Wissen um jüdische Traditionen durchaus wichtig wäre, dass dieses Traditionsbewusstsein aber am Schwinden ist und durch die Shoa und das 40jährige Schweigen danach einen Bruch erlebt hat.

Zum Thema Antisemitismus brachte Lichtmann das Beispiel der Horthy-Gedenktafel am Collegium in Debrecen, welche nach Jahren feierlich wieder angebracht und vom calvinistischen Bischof eingeweiht wurde. Lichtmann betonte, dass jeder und jede die Möglichkeit hat, zu Wort zu kommen und dass man dies nicht immer nur von der Politik erwarten sollte. Der Protest gegen rechtsextreme Schriftsteller wäre jedoch beispielsweise relativ schwach.

Die letzte Fragerunde widmete sich dem Ist-Zustand bzw. der Zukunft jüdischen Lebens in Ungarn. Schönberger und Lichtmann nehmen eine kontinuierliche Wissensabnahme bei der „neuen Generation“ wahr, welche sich zunehmend von jenem Judentum entfernt, das das traditionelle Judentum (mit starker Stellung des orthodoxen Rabbiners) war. Durch die Shoa ist etwas verloren gegangen, in der ungarischen Provinz noch mehr als in Budapest – ca. 80 Prozent der ungarischen Juden und Jüdinnen leben heute in Budapest. Viele Juden und Jüdinnen in Ungarn bekennen sich jedoch erst gar nicht zu ihrem Judentum.

Doch wie soll man auf diesen Verlust reagieren? Welche Strategien sind anzuwenden? Als eine Herausforderung definierten die DiskussionsteilnehmerInnen die Schaffung besserer Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb der jüdischen Gemeinden, wobei Lichtmann ebenso wie Schönberger betonte, dass seine Institution offen für Kooperationen wäre. Schönberger sah die größte Herausforderung letztlich darin, eine zeitgenössische Antwort darauf zu geben, was es heute bedeutet, in Jude Ungar oder Ungarin zu sein: Soll man am Alten anknüpfen? Soll man Neues schaffen? Das vorhandene Wissen sammeln und neu interpretieren? Aber wer ist die Zielgruppe? Er plädierte dafür, dass man mit nichtjüdischen Institutionen und Personen in einen Dialog treten müsse.

Den Abend beschlossen Fragen aus dem Publikum, die einmal mehr die Bedeutung der Diskussion dieses Themas aufzeigten.

Weiterführende Links:

Prof. Ágnes Heller: http://esztetika.elte.hu/en/dr-agnes-heller-dsc/

Prof. Tamás Lichtmann: http://www.or-zse.hu/oktatok/lichtmann.htm

Ádám Schönberger (MAROM): http://www.masortiworld.org/marom/chapters/hun

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