In Ungarn wurde nach dem Systemwechsel 1989 ein parlamentarisches Regierungssystem mit einem Einkammerparlament eingeführt. Für die Wahl der ursprünglich 386 Abgeordneten der „Landesversammlung“ (Országgyyűlés) einigte man sich auf ein kombiniertes Wahlsystem, das Verhältniswahl und Mehrheitswahl verband und außerdem kompensatorische Elemente enthielt. 176 der 386 Abgeordneten wurden mit absoluter Mehrheit in Einpersonenwahlkreisen gewählt. Wenn im ersten Wahlgang keine KandidatIn die absolute Mehrheit der Stimmen erreichte, war eine Stichwahl notwendig, zu der alle KandidatInnen antreten konnten, die im ersten Wahlgang mindestens 12,5 % der Stimmen erreicht hatten. Maximal 152 Abgeordnete wurden nach Verhältniswahl in 20 regionalen Mehrpersonenwahlkreisen über territoriale Listen der Parteien gewählt. Bei der Verteilung dieser Mandate wurden nur die Parteien berücksichtigt, deren Listen mindestens fünf Prozent der Stimmen erreicht hatten. Für Listenverbindungen von zwei Parteien betrug die Hürde 10 Prozent und für Listenverbindungen von drei und mehr Parteien 15 Prozent. Bei der Verteilung der restlichen mindestens 58 Mandate, für die die Parteien nationale Parteilisten eingereicht hatten, kam das kompensatorische Element des Wahlsystems zum Tragen. Entscheidend waren die Bruchstimmen aus den Einpersonenwahlkreisen (Stimmen, die auf die unterlegenen Kandidaten gefallen waren) und die Reststimmen aus der Mandatsverteilung über die territorialen Listen. Dieses Wahlsystem war extrem kompliziert und die Verteilung der Mandate kaum nachvollziehbar.
Nach den Parlamentswahlen 2010 kam es zu einer Reform des Wahlsystems, die zwar an der Grundstruktur des bisherigen Wahlsystems festhielt, aber gleichzeitig auch weitreichende Änderungen realisierte. Zunächst beschloss das neu gewählte Parlament kurz nach seiner konstituierenden Sitzung im Mai 2010 eine Verfassungsänderung, die die Zahl der Abgeordneten des Parlaments auf maximal 200 begrenzte. Im Dezember 2011 folgte dann ein neues Wahlgesetz, das die Zahl der Abgeordneten auf 199 festlegte, was einen Neuzuschnitt der Wahlkreise notwendig machte. Von den 199 Abgeordneten werden seitdem 106 mit relativer Mehrheitswahl in Einpersonenwahlkreisen gewählt und 93 mit Verhältniswahl über Parteilisten in einem landesweiten Wahlkreis. Die WählerInnen verfügen entsprechend über zwei Stimmen. Mit der ersten Stimme bestimmen sie die KandidatInnen in den Einpersonenwahlkreisen, die zweite geben sie für eine Parteiliste ab. Die bereits vorher bestehenden Hürden für Parteilisten (5 Prozent) bzw. Listenverbindungen von mehreren Parteien (10 bzw. 15 Prozent) wurden beibehalten. Das kompensatorische Element des neuen Wahlsystems spielt bei der Verteilung der 93 Listenmandate eine Rolle. Bei dieser werden neben den für die Listen abgegebenen Stimmen auch die in den Einerwahlkreisen für die unterlegenen KandidatInnen abgegebenen Stimmen (Verliererkompensation) und die für den Mandatserwerb der siegreichen KandidatInnen nicht benötigten Stimmen (Gewinnerkompensation) berücksichtigt.
Das Wahlgesetz von 2011 führte außerdem Sonderregelungen für die Vertretung der 13 in Ungarn anerkannten nationalen Minderheiten ein. Wählende, die sich vor der Wahl als Angehörige einer Minderheit registrieren, geben ihre Zweitstimme dann nicht für eine der Parteilisten, sondern für eine von ihrer Minderheit eingereichte Liste ab. Für den Gewinn eines Mandats muss eine Minderheit nur etwa ein Viertel der Stimmen erreichen, die eine Partei dafür benötigt. Eine weitere Neuerung war, dass auch ungarische StaatsbürgerInnen ohne Wohnadresse in Ungarn das Wahlrecht erhielten. Diese Regelung betrifft insbesondere die in den Nachbarstaaten lebenden UngarInnen und ermöglicht diesen, nach einer entsprechenden Registrierung per Briefwahl ihre Stimmen abzugeben, allerdings nur für eine Parteiliste.
Die größte Änderung des Wahlsystems ist der Wechsel vom absoluten zum relativen Mehrheitswahlrecht auf der Ebene der Einpersonenwahlkreise. Da für den Gewinn eines Mandats die relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen ausreicht, ist für die Bestimmung der DirektkandidatInnen nur noch eine Wahlrunde notwendig. Dies schließt die vorher übliche Absprache zwischen den Parteien im Vorfeld der zweiten Wahlrunde aus und verunmöglicht dadurch praktisch eine taktische Stimmabgabe.
Im Vorfeld der Parlamentswahlen des Jahres 2022 legte die Regierung im November 2020 erneut einen Vorschlag zur Modifizierung des Wahlgesetzes vor, welcher eine Verschärfung der Bedingungen für das Aufstellen von Parteilisten beinhaltete. Die bisherige Regelung sah vor, dass eine Partei in mindestens 9 Komitaten und der Hauptstadt in insgesamt mindestens 27 Wahlkreisen eigene KandidatInnen aufstellen musste, um mit einer Liste antreten zu können. Die im Dezember 2020 verabschiedeten Fassung des Wahlgesetzes legt dagegen fest, dass Parteien in mindestens 14 Komitaten und der Hauptstadt in insgesamt mindestens 71 Wahlkreisen eigene KandidatInnen zur Wahl zu stellen müssen, um eine Liste vorlegen zu können. Diese Verschärfung begrenzt die Handlungsspielräume für eine Absprache der Parteien bei der Aufstellung von KandidatInnen in den Einerwahlkreisen weiter.
Eine im November 2021 verabschiedete Modifizierung des Wohnsitzgesetzes könnte sich ebenfalls auf die Wahlen auswirken. Da es durch diese nicht mehr notwendig ist, an der als Wohnsitz angegebenen Adresse auch tatsächlich zu wohnen, und für die Eintragung einer Wohnadresse lediglich die Zustimmung der Eigentümer ausreicht, könnte dies den gezielten Wahltourismus in umkämpften Wahlkreisen vereinfachen. Dies könnte insbesondere dazu genutzt werden, AuslandsungarInnen über einen fiktiven Wohnsitz in Ungarn auch die Abstimmung über die DirektkandidatInnen zu ermöglichen.
Insgesamt ist das seit 2011 geltende Wahlrecht durch seine starke mehrheitsbildende und disproportionale Wirkung gekennzeichnet, die auf den hohen Anteil der nach relativer Mehrheitswahl vergebenen Mandate sowie auf das Kompensationssystem zurückzuführen ist. In den Parlamentswahlen 2014 und 2018 erwies sich das Kompensationssystem vor allem für die größten Parteien als vorteilhaft. Gemäß der einschlägigen Literatur ist aufgrund der mehrheitsbildenden Wirkung des Wahlsystems die Herausbildung eines Zweiparteiensystems zu erwarten. Die Ergebnisse der Wahlen von 2014 und 2018 scheinen diese Hypothese zu bestätigen. Die Regierungsparteien Fidesz/KDNP gewannen 44,87 bzw. 49,27 Prozent der Listenstimmen, was jeweils für eine Zweidrittelmehrheit im Parlament reichte. Aufgrund ihrer Fragmentierung hatte die Opposition keine Chance, die Mehrheit der Regierungsparteien zu brechen. Dies ließ ein koordiniertes Vorgehen auf Seiten der Opposition als einzig mögliche praktische Option für eine Ablösung der Regierung erscheinen.
Ellen BOS / Zoltán Tibor PÁLLINGER