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West- und Osteuropa − Nebeneinander statt Miteinander? Die Geschichte einer Trennung 2.0, mit Norbert Mappes-Niediek und Eszter Kováts
Gemeinsam mit der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltete die AUB am 17. Mai eine offene Diskussionsrunde, um die vielfältigen Gründe für die anhaltende Dissonanz zwischen Ost- und Westeuropa auch fast 20 Jahre nach der EU-Osterweiterung zu diskutieren.

In Vertretung von Beate Martin, Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung Budapest, eröffnete János Molnár, wissenschaftlicher Mitarbeiter, die Veranstaltung mit einem Grußwort, gefolgt vom Leiter des Lehrstuhls für Diplomatie und Studiengangsleiter für Internationale Beziehungen an der AUB, Dr. Heinrich Kreft. 

Als erster ging Norbert Mappes-Niediek, seit 1992 freier Korrespondent für Österreich und Südosteuropa, auf die Schwierigkeiten zwischen Ost und West in der Europäischen Union ein, die sich regelmäßig in kleinen und großen Konflikten manifestierten. Seine Beobachtungen hat er in seinem kürzlich erschienenen und viel beachteten Buch „Europas geteilter Himmel: Warum der Westen den Osten nicht versteht“ zusammengefasst. Hier finden sich verschiedene Aspekte, von Ess- und Trinksitten über Religion, das unterschiedliche Verständnis von Toleranz, die viel debattierte öffentliche Homophobie, die im westlichen Verständnis so rätselhafte Unterscheidung zwischen Staatsangehörigkeit und Nationalität, bis hin zu den enormen Bevölkerungsbewegungen von Ost nach West und dem Entwicklungsmodell, das sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf dem Kontinent durchgesetzt hat. Auf Letzterem lag der Fokus seines Vortrags, wenngleich es seiner Ansicht nach zwischen all diesen verschiedenen Kontroversen schlussendlich einen inneren Zusammenhang gibt.

So habe sich mit dem Bröckeln des Ostblocks ein Narrativ gefestigt, in dem der Westen die Norm und das Ziel, der Osten dagegen der Anwärter oder gar Schüler sei. Für Russland habe es nach dem Ende des Kalten Krieges keinen Platz mehr gegeben. Unterschiede in Kultur und Lebensweise wurden dem Kommunismus zugeschrieben, den es möglichst schnell zu überwinden galt. Eine Auseinandersetzung mit den 45 Jahren Geschichte seit Ende des Zweiten Weltkriegs sei so ausgehöhlt worden, und nach anfänglichen Krisen in den 1990ern habe eine „Aufholjagd“ der Länder Zentraleuropas oder „Mitteleuropas“ begonnen, ein Begriff, der die Verbundenheit der Region mit dem Westen betone und von Milan Kundera in seinem berühmten Aufsatz „Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas“ von 1983 wieder salonfähig gemacht worden sei. 

Und tatsächlich habe sich die Wirtschaft schnell erholt, vor allem in den Hauptstädten sei das BIP gestiegen. Gleichzeitig wären aber die Unterschiede zwischen den Ländern immer größer geworden – auch zwischen den Regionen innerhalb der Länder, was zu Verwerfungen und massiven Abwanderungen geführt habe. Zwar investierten westliche Unternehmen in Osteuropa, doch bauten sie dabei auf Bedingungen, die Mappes-Niediek „vergiftete Vorteile“ nannte, nämlich niedrige Löhne und geringe Steuern, die eine echte Angleichung der Verhältnisse mit dem Westen verhindern und eine Konkurrenz um billige Arbeitskräfte zwischen den Ländern fördern würde. All dies habe vielerorts zu einem Anstieg von Nationalismus geführt, der eben nicht mit einem Gefühl von Größe, sondern mit einem „Underdog-Bewusstsein“ zu tun habe und dem Gefühl, vom Westen ausgenutzt und gedemütigt zu werden. 

Angesichts dieser düsteren Bilanz stellt sich die Frage, ob die damaligen Entscheidungen falsch waren. Mappes-Niediek verneinte das, denn seiner Meinung nach habe es keine Alternativen gegeben. Wohl aber sei es versäumt worden, die richtigen Konsequenzen zu ziehen aus den sich abzeichnenden Trends, wodurch sich die Unterschiede zwischen Zentren und Peripherien verfestigen konnten. Die Transferleistungen innerhalb der Union würden keinesfalls ausreichen, um eine echte Integration und Kohäsion zu erzielen. Die EU betrachte Migration noch immer als Problem statt als Triebkraft. Nationale Systeme würden der hohen Mobilität nicht mehr gerecht, etwa wenn das Rentensystem in Bulgarien angesichts der massiven Emigration nur noch von den wenigen Dagebliebenen getragen werden müsse, erklärte Mappes-Niediek. 

Mit Blick auf Russland stellte der Autor abschließend fest, dass es viele Probleme Osteuropas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs teile und es sogar Überlegungen gab, der EU oder gar der NATO beizutreten, die vom Westen allerdings nie ernst genommen worden seien. Die von der EU angeregte Modernisierungspartnerschaft nach Ende des Georgienkrieges 2008 bewertete er angesichts des Angriffs auf die Ukraine als „wohl zu spät“, dennoch erfordere gerade diese Bedrohung erhöhte Kohäsion und eine neue Außenperspektive statt einer harten Ostgrenze. Das erfordere in seinen Augen aber auch das von der Juncker-Kommission vorgeschlagene „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, um nationalistischen Antagonismen entgegenzuwirken.

Dr. Eszter Kováts, Politikwissenschaftlerin an der Eötvös Loránd Universität (ELTE) in Budapest, schloss sich der Analyse ihres Vorredners an und bekräftigte die Notwendigkeit, die nach wie vor präsente Trennung zwischen Ost und West zu thematisieren und zu diskutieren, um neue Wege für die Zukunft zu finden. Sie deutete auf die sozialen Ungleichheiten hin, die insbesondere in Zeiten der Pandemie deutlich geworden wären. So seien osteuropäische Ernte-, Pflege- und FleischarbeiterInnen Motor der westlichen Wirtschaft und Lückenfüller für fehlende staatliche Strukturen. Auch bestehe eine starke Abhängigkeit Osteuropas von ausländischen Direktinvestitionen. Doch wie der Schweizer Ökonom Thomas Piketty zeige, würden die Transferleistungen vonseiten der EU deutlich von den Geldern übertroffen, die die Länder in Richtung EU verlassen. Emigration und Niedriglohnsektoren führten zu einer Abwärtsspirale, deren Ursache in der Logik der Marktwirtschaft liege, so Kováts.

In ihrer Dissertation hat sich Kováts mit der Instrumentalisierung von „Genderwahnsinn“ als Konzept der extremen Rechten in Ungarn und Deutschland beschäftigt, weshalb sie auch in diesem Vortrag einen Fokus auf Frauen- und LGBT-Rechte legte, um strukturelle Abhängigkeiten zu verdeutlichen. So sei der Fortschritt in der Gleichstellung auch ein Produkt der Ungleichheit, da etwa deutsche Frauen auch deshalb Karrieren nachgehen könnten, weil sie osteuropäische Frauen für Haushalt und Pflege anstellen könnten.

Ein anderes Beispiel seien die Ressourcen für wissenschaftliche Forschung, etwa die Geschlechterforschung.  Diese kämen aus dem Westen, weshalb dessen Theorien und Arbeiten tonangebend seien und auf lokale Kontexte projiziert würden, erklärte die Politikwissenschaftlerin. Weiterhin habe EU-Politik im Bereich Gender, aber auch etwa in der Landwirtschaft, Ungleichheiten verstärkt, weil sie ebenfalls der Logik des Marktes folge, die überwiegend von Frauen ausgeübte Berufe wie Care-Arbeit weniger honoriere.

LGBT-Aktivismus habe auch im Osten tiefe Wurzeln, sei in den vergangenen Jahrzehnten jedoch zunehmend verwestlicht worden – einerseits durch Förderung und Themensetzung aus dem Westen, andererseits durch die Instrumentalisierung populistischer Gruppen als „Bedrohung aus Brüssel“ gegen die eigene Kultur. Der Belehrungs- und Symbolpolitik westlicher Staaten, die sich auf vermeintlich „universelle“ Werte berufe, hielt Kováts einen Spiegel vor, indem sie Zahlen westlicher Investitionen (inklusive Rüstungsexporte) in Ungarn zeigte – eindeutig gehe hier der Profit über die Ideologie. Der Begriff „europäische Werte“ verstecke eine Doppelmoral, die im Osten sehr wohl wahrgenommen werde und ein massiver Trennfaktor sei, ergänzte Kováts.

In der sich anschließenden Diskussion, die Herr Kreft moderierte, wurde eine Vielzahl von Themen wieder aufgegriffen. So wurden der aktuellen geografische Trennung andere Linien in der Geschichte gegenübergestellt, etwa die Grenzen des Byzantinischen Reichs und dessen Nachwirkungen bis heute. Die ReferentInnen stimmten zu, dass es vielerlei Trennlinien in Europa gebe, deren Relevanz sich immer neu definiere und nicht zuletzt subjektiv sei. Besonders der Unterschied zwischen Zentren und Peripherien wurde thematisiert. In allen Ländern der Welt gebe es schließlich abgehängte oder zumindest sekundäre Regionen, doch sei es falsch, zu versuchen, diese anzugleichen. Stattdessen müsse der Transfer in diese Regionen verbessert werden, um eine echte Kompensation zu bieten, so Mappes-Niediek. Und auch Mobilität müsse unter diesem Gesichtspunkt neu bewertet werden, denn obwohl viel von „hypermobilen Eliten“ die Rede sei, sehe man diese Tendenz etwa bei rumänischen Handwerkern viel deutlicher. Und während „Ost“ und „West“ natürlich nicht als homogene Kategorie betrachtet werden können, sei doch zu beobachten, dass viele Narrative im Osten anschlussfähig sein, die im Westen auf Unverständnis stoßen.

Auf Fragen nach Werteunterschieden verwies Kováts auf die Bedeutung von Zugängen zu Ressourcen, die viel zentraler seien als Ideale von Toleranz und Offenheit. So beobachte sie eine Trennung der Werte nach gesellschaftlichen Klassen, wobei materielle Sorgen missachtet würden zugunsten der scheinbaren Universalität teilweise sehr neuer Konzepte. So ist ihrer Ansicht nach Selbstkritik von allen Seiten geboten, um dieser Kluft und der zunehmenden Instrumentalisierung kritischer Konzepte durch die globale Rechte zu begegnen.

Zum Schluss richtete Molnár einen Appell an die Anwesenden, vermeintlich historische Notwendigkeiten nicht einfach als selbstverständlich anzusehen, sondern stattdessen immer Alternativen zu suchen und Visionen zu verfolgen, anstatt diese Bereiche antidemokratischen Kräften zu überlassen. Krefts abschließende Frage, ob Ungarns Regierung angesichts der Argumente für einen verbesserten Transfer zwischen den Regionen nicht eigentlich für mehr Föderalismus einstehen müsste, verneinte Mappes-Niediek mit dem Verweis auf die vom neoliberalen Modell befeuerte Konkurrenz zwischen den Staaten, die identitäre Gruppen und Antagonismen stärke. Nationalen Identitätspolitiken könne nur mit großzügigen Angeboten begegnet werden, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen sei. 

Die Diskussion wurde in informellem Rahmen beim anschließenden Empfang auf Einladung der FES fortgesetzt.

Frauke M. SEEBASS

Die Veranstaltung ist Teil der Ringvorlesung 'Westbalkan' an der AUB im Sommersemester 2022, organisiert von Dr. Christina Griessler, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Beauftragte des Rektors für die Westbalkan-Kooperation. Zum Abschluss der Reihe wird Una Hajdari, Research Fellow am IWM Wien, am 17. Juni einen Vortrag zum Einfluss chinesischer Machtbestrebungen auf europäische Narrative halten.

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