Nach der Begrüßung durch den Rektor der AUB, Professor Dr. Zoltán Tibor Pállinger, und die Prorektorin für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs, Professor Dr. Ellen Bos, betonte Pállinger, dass Demokratie vor allem ein Instrument zur friedlichen Lösung von Konflikten und somit eine zivilisatorische Leistung sei. Das Instrument der Demokratie, die Wahlen, stellen kein selbstevidentes Instrument dar, sondern sei eine politische Erfindung, die die Legitimität von politischen Entscheidungen sicherstellen solle. Damit Wahlen als legitim gelten können, sei vor allem wichtig, dass sie frei und fair sind. Um eine freie, informierte Entscheidung treffen zu können, brauche es freien Zugang zu Informationen und Wissen, so Pállinger. Die AUB existiere nicht im luftleeren Raum, sondern sei Teil der sie umgebenden näheren und weiteren Gesellschaft. Im Sinne ihrer dritten Mission wolle die Universität durch Veranstaltungen wie den Wahlabend ihren Teil dazu beitragen, den demokratischen Diskurs in Ungarn und auch der EU zu stärken. Auch der ungarische Wahlomat Volkskabin und die Diskussionsplattform Vitatkozz velem und die ungarische Version von Talking Europe seien Initiativen der AUB, um Dialoge über Kultur- und Parteigrenzen hinweg zu ermöglichen und die politische Bildung insbesondere der Jugend zu stärken.
Schon zu Beginn des Abends prognostizierte Bos einen Wahlsieg von Orbán und Fidesz. Wie sich herausstellte, sollte sie Recht behalten. Jedoch war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar, ob es erneut für eine Zweidrittelmehrheit reichen würde. Trotzdem betonte Bos, die Chancen der Opposition seien in den letzten 12 Jahren nie größer gewesen. Mit der Vorwahl im Herbst habe diese es geschafft, ein Momentum des Aufbruchs zu generieren, was sich kurzzeitig auch in einem Vorsprung in den Meinungsprognosen gezeigt habe. Es sei aber nicht gelungen, diesen zu erhalten, unter anderem auch, weil der Krieg in der Ukraine die Wahlen überschattet habe. Der Angriff auf die Ukraine habe die Außen- und Sicherheitspolitik zum dominierenden Thema des Wahlkampfs gemacht. Fidesz sei ohne Programm allein mit der Person von Viktor Orbán als Aushängeschild in den Wahlkampf gezogen und habe dabei den Krieg instrumentalisiert, um sich als Garant des Friedens zu inszenieren, so Bos. Zudem habe sich die Kampagne von Fidesz darauf konzentriert, die Opposition und insbesondere deren Spitzenkandidaten Márki-Zay als Marionetten der dunklen Vergangenheit zu diskreditieren. Pállinger ergänzte, dass die Wahlen in Ungarn bereits in den Jahren 2014 und 2018 von der OSZE als frei, aber nicht fair eingestuft worden seien, weil eine feindselige und einschüchternde Rhetorik wenig Raum für eine substanzielle Debatte gelassen habe. Problematisch sei vor allem auch das Ungleichgewicht der Ressourcen im Wahlkampf gewesen, da im System Orbán Partei- und Regierungsressourcen und Informationen vermischt würden (state capture).
Ein Blick nach Polen – Hoffnung auf eine andauernde strategische Partnerschaft
Anschließend richtete Dr. Piotr Kocyba den Blick auf die polnische Perspektive zur Wahl in Ungarn. Da die Regierungen der beiden Staaten eine enge Beziehung pflegten, sei die Hoffnung der polnischen Regierung, dass Orbán und die Fidesz als Sieger aus der Wahl hervorgingen. Die polnische Regierung brauche Ungarn als Verbündeten im Kontext des Artikel-7-Verfahrens, um EU-Sanktionen wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit zu blockieren, da diese einstimmig getroffen werden müssen.
Mit Orbán als ungarischem Regierungschef könne man in Polen ruhig schlafen. Durch den Angriff Putins auf die Ukraine und Orbáns Nähe zur russischen Führung sei es jedoch zu einem kurzzeitigen Riss in dieser Partnerschaft gekommen. Die polnische Regierung habe scharfe öffentliche Kritik am Standpunkt der ungarischen Regierung geäußert, und auch die Kooperation der V4-Staaten sei kurzfristig ausgesetzt worden. Im Nachhinein habe es allerdings Verständnis für Orbán gegeben. Orbán habe immer mit offenen Karten gespielt und wegen der starken Abhängigkeit Ungarns von Russland müsse er sich natürlich entsprechend verhalten. Außerdem sei es ja nicht nur Ungarn, das sich bei einem Boykott russischen Gases querstelle. Die Hoffnung der polnischen Opposition sei dagegen natürlich ein Ende der Übermacht von Fidesz im ungarischen Parlament, sodass die EU einen stärkeren Einfluss auf die eigene Regierung ausüben könne. Allerdings sehe die Opposition keine realistische Chance, dass Orbán an diesem Sonntag abgewählt werde, so Kocyba.
Wahlen in Serbien: Mehr Parallelen als nur das Datum der Wahl
Der nächste Programmpunkt widmete sich den Wahlen in Serbien, die ebenfalls an diesem Sonntag, den 3. April 2022 stattfanden. Dr. Christina Griessler und die AUB-Doktorandin Fanni Elek gaben zunächst eine Einführung über das politische System und die politische Situation in Serbien, wobei sie die Parallelen zu Ungarn bezüglich der Entwicklung der demokratischen Qualität hervorhoben. Auch in Serbien könne man eine erhebliche Einschränkung politischer Debatten beobachten und die Wahlen seien vom Präsidenten instrumentalisiert worden, was man daran merke, dass sie mehrfach vorgezogen wurden, um die Macht der regierenden Partei zu stärken. Auch deshalb sei von allen Wahlen in Serbien die lokale Wahl in Belgrad am spannendsten, da ansonsten nicht mit größeren Umbrüchen gerechnet werde. Dušan Spasojević von der Universität Belgrad, mit dem die beiden im Vorfeld des Wahlabends gesprochen hatten, prognostizierte demnach in seiner Videobotschaft einen deutlichen Wahlsieg für den amtierenden Präsidenten Vučić und erklärte, dass auch die ungarische Minderheit in Serbien zu den UnterstützerInnen des Präsidenten zähle.
Nach dem Exkurs zu den Wahlen in Serbien meldete sich Dr. Melani Barlai, wissenschaftliche Mitarbeiterin der AUB, die am Sonntag als Wahlhelferin hautnah am Wahlgeschehen beteiligt war, mit einer Videobotschaft bei den Versammelten im Spiegelsaal. Sie berichtete, dass im Wahllokal große Anspannung herrsche und es bereits kleinere Verstöße gegen das Wahlgeheimnis gegeben habe. Sie erklärte, dass bei den ungarischen Wahlen keine zivile Wahlbeobachtung möglich sei, da lediglich Delegierte der Parteien und gewählte Wahlbeobachter zugelassen würden. Sie selbst war zwar im Namen einer NGO vor Ort, die es sich zum Ziel gesetzt habe, dass mindestens zwei unabhängige, geschulte Delegierte in jedem Wahllokal die Wahl beobachten, galt aber formell als Vertreterin von Parteien. Diese NGO habe außerdem dafür mobilisiert, dass internationale Beobachter die Wahl begleiteten und tatsächlich seien 200 KurzzeitbeobachterInnen nach Ungarn gekommen.
Im abschließenden Input des Analyseteils richtete AUB-Alumnus Dr. habil. András Hettyey den Blick auf die ungarische Außenpolitik. Diese basiere auf zwei Grundpfeilern: Konfrontation und Pragmatismus. Der Konfrontationskurs der Regierung habe dafür gesorgt, dass Ungarn im internationalen und vor allem im europäischen Kontext immer stärker isoliert worden sei. Dass es immer wieder zu Konfrontationen komme, liege auch daran, dass sowohl die ungarische Regierung als auch die Europäische Union einen großen Rucksack an emotionalem Ballast mit sich herumtrügen. Dieser Ballast wiege schwer, so Hettyey, da auf beiden Seiten ein großer Vertrauensverlust und erhebliches Misstrauen herrsche. Es sei nicht zu erwarten, dass sich dieses Verhältnis in naher Zukunft ändern werde. Vor allem vor dem Hintergrund strittiger Grundsatzfragen zum Thema Energie und der Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine. Das enge Verhältnis der ungarischen Regierung zu Staaten wie Russland sei der Tatsache geschuldet, dass man von diesen nicht in erster Linie Kritik erfahre, sondern dass Ungarn vielmehr Respekt entgegengebracht und das Land mit demselben Pragmatismus behandelt werde, der auch sein eigenes Politikverständnis präge. Generell sei die ungarische Außenpolitik der aktuellen Regierung nicht durch ideologische, sondern durch transaktionistische Überlegungen gekennzeichnet. Mit Blick auf einen potentiellen Regierungswechsel konstatierte Hettyey, dass man mit Márki-Zay einen unberechenbaren Ministerpräsidenten vor sich habe, da dieser über wenig politische Erfahrung verfüge. Er sei aber sicherlich ein umgänglicherer Partner, schon allein weil er ohne den Rucksack voll angestautem Misstrauen komme, was einen Neubeginn ermöglichen würde.
Nach den Hintergrundanalysen und einer Pause, in der die Teilnehmenden sich untereinander und mit den ExpertInnen bei Essen und Getränken austauschen konnten, startete der zweite Teil des Abends mit einer Podiumsdiskussion rund um die ersten verlässlichen Hochrechnungen, die am Sonntagabend schon auf eine Zweidrittelmehrheit der Fidesz-Partei hindeuteten. Moderiert wurde die Diskussion von Frau Dr. Kristina Kurze, DAAD-Langzeitdozentin an der AUB, auf dem Podium diskutierten Frau Bos und die Herren Pállinger, Kocyba und Hettyey.
Diskussion: Die Macht der Narrative und (k)ein Ende in Sicht
Der erste Aspekt, der in dieser Runde diskutiert wurde, war die Ursache für das starke Wahlergebnis von Orbán und Fidesz. Ellen Bos ging noch mal auf den Umbau des politischen Systems seit der Machtübernahme von Fidesz bei den Wahlen 2010 ein. So habe Fidesz es geschafft, die eigene Macht institutionell zu verankern und insbesondere durch die Mediendominanz sei es der Partei gelungen, das eigene Narrativ zu verbreiten. Außerdem habe die ungarische Regierung innenpolitische Erfolge erzielen können durch eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und der Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt.
Professor Pállinger ergänzte, die Stärke von Fidesz ergebe sich auch aus der Schwäche der Opposition. Diese sei hauptsächlich mit einem Anti-Orbán Narrativ angetreten, statt mit konkreten Inhalten. So hätten es weder die starke Korruption noch andere wichtige Sachfragen auf die Wahlkampf-Agenda geschafft. Hettyey betonte, was den Wahlkampf und die Möglichkeit betreffe, Narrative zu etablieren, könne man die Opposition und die Regierung nicht miteinander vergleichen. Das sei, als würde man Walnüsse mit Melonen vergleichen, so Hettyey.
Auch habe die gleichzeitige Abhaltung eines Referendums mit der Wahl, so Pállinger, den Regierungsparteien bei der Mobilisierung geholfen. Auf die Frage, ob der neu etablierte Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ein erfolgversprechendes Instrument sei, schloss Dr. Kurze, das hänge auch stark von den Entwicklungen im Krieg gegen die Ukraine ab. So bleibe abzuwarten, ob Orbán sich nicht doch in die Reihen der westlichen liberal-demokratischen Staaten einreihen werde. Pállinger merkte an, dass das System Orbán vor allem durch materielle Leistungen legitimiert werde und deshalb die scheinbar positive wirtschaftliche Entwicklung aufrechterhalten werden müsse, wofür die Regierung wiederum auf EU-Gelder angewiesen sei. Blieben diese aus, könnte der Druck einzulenken entsprechend erhöht werden.
Zum Schluss richtete sich der Blick noch mal in die Zukunft und auf die Frage, wie es nun in Ungarn weitergehe. Bos äußerte sich besorgt ob der zunehmenden Radikalisierung der Rhetorik des ungarischen Ministerpräsidenten. Angesichts dieser radikalen Rhetorik bemerkte Kocyba, die wohl größte Chance der ungarischen Opposition sei, dass die Regierung sich in der eigenen Spirale an Eskalation verstricke und sich so selbst sabotiere. Orbán habe einige Kämpfe angezettelt, die er nicht gewinnen könne. Auch Hettyey wagte die Prognose, dass die aktuelle Krise der Anfang vom Ende der Fidesz-Regierung in Ungarn sein könnte. Zwar sei es erschreckend, wie schnell man sich an Zustände gewöhne und wie gut das System Orbán funktioniere, jedoch bleibe die Hoffnung, dass der Schock durch den brutalen Angriff auf die Ukraine ein Weckruf sei und eine Wende einläute. Auch Bos betonte, dass das aktuelle Zusammenrücken des Westens gegenüber Putin einen positiven Impuls in der EU setze, sich wieder stärker auf die eigenen Werte zu besinnen. Es sei nun wichtiger denn je, die Bedrohung der Demokratie sowohl von innen als auch von außen zu bekämpfen.
Laura BEURER