Die Zeit unmittelbar nach dieser epochalen Wende war durch großen Optimismus geprägt. Die Teilung Europas schien endgültig überwunden zu sein und es herrschte die Vorstellung, dass sich Demokratie und freie Marktwirtschaft in ganz Europa unwiderruflich durchgesetzt hätten und man in eine gemeinsame friedliche Zukunft in einem vereinigten, demokratischen und prosperierenden Europa blicke. Diese Erwartung spiegelt sehr deutlich die 1990 von der OSZE verabschiedete Charta von Paris (1990) wider, die ein „Neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit in Europa“ proklamierte. Francis Fukuyama (1993) brachte dieses Gefühl in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ auf den Punkt.
Allerdings standen alle ostmitteleuropäischen Staaten vor den gleichen umfangreichen Herausforderungen der Transformation. Zum einen war auf der politischen Ebene der Umbau der sozialistischen Diktaturen zu liberalen Demokratien zu bewältigen. Zum anderen mussten im Bereich der Wirtschaft die sozialistischen Planwirtschaften in freie Marktwirtschaften überführt werden. Darüber hinaus erforderte die angestrebte Integration in die Europäische Gemeinschaft und die NATO zahlreiche Reformen. Noch komplizierter war die Situation in den Staaten, die gleichzeitig auch noch Prozesse der Staats- und Nationsbildung durchliefen: Hier mussten zusätzlich auch die Grundlagen der nationalen Identität neu geschaffen, bzw. reformuliert werden. Insgesamt standen die Staaten durch diese verschiedenen, parallel ablaufenden Transformationsprozesse vor einem Dilemma der Gleichzeitigkeit (Offe 1991). Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass auch skeptischere Positionen artikuliert wurden, die die Größe der zu bewältigenden Aufgaben hervorhoben. Dahrendorf (1991) formulierte den Einwand, dass Demokratien nur als konsolidiert gelten könnten, wenn sie den Test der Ernüchterung bestanden hätten, wenn die Gesellschaften zu einem realistischeren, weniger idealisierten Verständnis von Demokratie gefunden hätten. Vertreter der Realistischen Schule wie Huntington (1991) gingen ohnehin davon aus, dass einer Welle der Demokratisierung stets eine Gegenwelle (der Entdemokratisierung) folgen würde. Angesichts der sich verstärkenden Globalisierung und ihrer sozialen Folgen warnte Dahrendorf bereits 1997 davor, dass ein “Jahrhundert des Autoritarismus [...] keineswegs die unwahrscheinlichste Prognose für das 21. Jahrhundert” sei (Dahrendorf 1997).
Insgesamt dominierte jedoch in den 1990er Jahren das Transitionsparadigma, das davon ausging, dass die neuen Demokratien sich in einem Prozess der demokratischen Konsolidierung befänden, in dem sie sich dem westlichen Vorbild immer weiter annähern würden. Auch wenn das Transitionsparadigma im Prinzip den Ausgang von Demokratisierungsprozessen als ungewiss betrachtete, herrschte im Allgemeinen die Vorstellung vor, dass sich die Transformationsstaaten in einer Art sportlichen Regatta befänden, in der die Teilnehmer zwar mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs waren, aber letztlich alle die Ziele von Demokratie und Marktwirtschaft erreichen würden. Überdies versuchten insbesondere die USA und zahlreiche europäische Staaten, die Demokratisierung von außen zu unterstützen. Auch die politische Rhetorik und die Erwartungen der Bevölkerungen in den neuen Demokratien folgten dieser optimistischen Annahme. Zahlreiche politische Gruppierungen schrieben sich ganz explizit das Motto der „Rückkehr nach Europa“ auf die Fahnen. Damit verbanden viele BürgerInnen den Wunsch nach einem „Werden wie der Westen“, um möglichst schnell Freiheit und Wohlstand zu erreichen. In der politischen Praxis bedingte dies die Übernahme der im Westen vorherrschenden Institutionensysteme und Regeln. Entsprechend galt ein „Imperativ der Nachahmung“ (Krastev / Holmes 2019).
Entgegen der Annahmen der Transitionsforschung zeigte sich bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends eine Verlangsamung der Angleichungsprozesse und es stellte sich heraus, dass dauerhaft Abweichungen vom westlichen Modell bestehen blieben. Zunächst wurde diese Entwicklung unter dem Schlagwort der defekten Demokratie verhandelt (Merkel et al. 2003). Der Fokus der Forschung richtete sich mehr und mehr auf demokratische Defizite. Dies hatte auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Transitionsparadigma zur Folge (Carothers 2002). Gleichzeitig gerieten auch die Probleme in den etablierten Demokratien in den Blick und lösten intensive Debatten über die Qualität der Demokratie schlechthin aus. Dies führte zu einem Boom in der empirischen Demokratieforschung, insbesondere im Bereich der Messung der Qualität von Demokratien und der Ausdifferenzierung der gängigen Regimetypologien (Collier und Levitsky 1997). Dabei entstand eine kaum noch zu überblickende Zahl neuer Demokratiebegriffe (“Demokratie mit Adjektiven”), was von spöttischen Beobachtern als “Babel in democratization studies” (Armony und Schamis 2005) kritisiert wurde.
Empirische Studien konnten ab Mitte der Nullerjahre immer mehr Anzeichen ausmachen, dass nicht nur zahlreiche Regime stabil in der Grauzone zwischen Demokratie und Autoritarismus verharrten, sondern sich auch in vermeintlich bereits konsolidierten neuen Demokratien Erosionsprozesse abzuzeichnen begannen. Dies führte zu einer radikalen Infragestellung des Transitionsparadigmas. Gleichzeitig setzte eine Diskussion über das Ende der Dritten Welle und den Beginn einer neuen Reverse Wave ein. Die NGO Freedom House wies als einer der ersten prominenten Beobachter in ihrem Bericht über das Jahr 2006 auf eine Stagnation der Demokratieentwicklung hin ( Puddington 2007). Im folgenden Jahr verschärfte sich ihre Diagnose und sie konstatierte, dass sich eine Trendwende abzuzeichnen beginne (Puddington 2008). Die Folgen der Finanz- und der darauf folgenden Wirtschaftskrise von 2008 führten zu einer generellen Infragestellung des westlichen “Erfolgsmodells”. Gleichzeitig etablierten sich neue und alte autoritäre Systeme, wie etwa China und Russland, als erfolgreiche Gegenmodelle. In der öffentlichen Wahrnehmung setzte sich der Eindruck fest, dass sich die Demokratie in einer Krise befände. Damit verschob sich auch der Fokus der Demokratieforschung auf die Prozesse des “democratic backsliding”, bzw. der “democratic erosion”. Es erschien eine regelrechte Welle von Publikationen, die für die Demokratie düstere Zukunftsaussichten prognostizierten: Von der “Krise” (Abramowitz 2019) über die “Rückdrängung” (Diamond 2008) bis hin zum “Sterben”, dem “Ende” und dem “Zerfall” der Demokratie (Levitsky/Ziblatt 2018; Runciman 2018; Mounk 2018). Konstatiert wurde, dass die Demokratie einerseits von innen unterhöhlt und andererseits durch die Expansion autoritärer Herrschaftssysteme herausgefordert wird.
Als Grundmuster der internen Erosionsprozesse wird eine schrittweise Aushöhlung der demokratischen Institutionen und Verfahren durch demokratisch legitimierte Regierungen beschrieben. Diese implementieren nach ihrem Wahlsieg als zentralen ersten Schritt institutionelle Reformen, die die Gewaltenteilung schwächen, insbesondere durch die Ausschaltung der Justiz als unabhängiges Gegengewicht. Im zweiten Schritt wird das Mediensystem unter die Kontrolle der Regierung gebracht. Weitere institutionelle Reformen - wie etwa Modifizierungen des Wahlsystems - dienen der dauerhaften Machtabsicherung. Schließlich wird in diesem Prozess auch der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft eingeschränkt, indem bürgerliche Rechte und Freiheiten beschnitten werden. Häufig geht dieser Prozess mit dem Aufbau eines Netzwerkes loyaler Unterstützer in der Wirtschaft einher, die zu den Profiteuren des Systems gehören und im Gegenzug die Dominanz der regierenden Elite wirtschaftlich absichern. Daneben treten autoritäre Mächte auf der internationalen Bühne immer offensiver auf. Neben ihrem geopolitisch legitimierten Beharren auf einer multipolaren Welt versuchen sie, der Demokratie, die sie als bloßes ideologisches Instrument westlicher Hegemonialbestrebungen sehen, eigene Wert- und Ordnungsvorstellungen entgegenzusetzen (Freedom House 2022).
30 Jahre nach der Epochenwende 1989/90 haben sich die geopolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend verändert und Demokratie und freie Marktwirtschaft haben an Strahlkraft verloren. Der Optimismus der unmittelbaren Nachwendezeit ist einem großen Pessimismus im Hinblick auf die Zukunft der Demokratie gewichen. Vor diesem Hintergrund kritisiert vor allem der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán die fehlende Wettbewerbsfähigkeit des alten Europa. Die Zukunft sieht er nicht im alten Europa, sondern in den neuen aufstrebenden Mächten wie Russland, China, Türkei. Diese seien leistungsfähiger und erfolgreicher als die liberalen Demokratien des Westens. Damit wird auch der Imperativ der Nachahmung obsolet. Das herkömmliche Modell der westlichen Demokratie kann nicht mehr als unhinterfragtes Vorbild herhalten. Viktor Orbán (2020) hat diese Entwicklung prägnant zusammengefasst: „Früher dachten wir, Europa sei unsere Zukunft, jetzt wissen wir, dass wir die Zukunft Europas sind.“ Entsprechend ist nicht mehr von einer „Rückkehr nach Europa“ die Rede, sondern es wird der Anspruch erhoben, Europa zu sein und auch schon immer gewesen zu sein. Der Begriff “Europäisierung”, der eine umfassende Anpassung an die Standards der etablierten Demokratien und ihre Werte und Prinzipien als anzustrebendes Ziel bezeichnet, wird folgerichtig kritisch gesehen. Aus diesem Grund werden auch die noch in der alten EU festgelegten Standards im Hinblick auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht mehr kritiklos akzeptiert und übernommen. Deshalb werden sowohl das Konzept als auch die praktische Umsetzbarkeit der Demokratieförderung zunehmend in Frage gestellt.
Diese Entwicklungen kulminieren in scharfen Konflikten, in denen es nicht mehr primär um “kleinteilige” Policyentscheidungen und Umverteilungsfragen, sondern um grundlegende Themen der Identitätspolitik wie Migration, Nationalstaatlichkeit, Minderheitenrechte und den Stellenwert traditioneller Werte geht.
Die mit der Rückkehr nach Europa und der Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft verbundenen Erwartungen eines schnellen wirtschaftlichen Aufschwungs und einer substanziellen Verbesserung des Lebensstandards haben sich für einen großen Teil der Bevölkerungen nicht im erhofften Ausmaß erfüllt. Dies lässt sich nicht zuletzt auf die Auswirkungen von Globalisierung und neoliberaler Wirtschaftspolitik sowie eine Reihe von zusätzlichen Herausforderungen wie Migration, Klimawandel, Pandemie zurückführen und hinterlässt trotz steigendem Lebensstandard, beachtlichem Wirtschaftswachstum und der Freizügigkeit in Europa Verlustgefühle, die Chancen für populistische politische Akteure bieten.
Trotz aller Problem- und Krisendiagnosen wäre es aber fehl am Platz, die Demokratie vorzeitig abzuschreiben. Die ursprünglich in der Transformationsforschung herausgearbeiteten Vorteile der demokratischen Regierungsform behalten weiterhin ihre Gültigkeit. Przeworski (2020) betont, dass Demokratie eine Möglichkeit bietet Konflikte geordnet und friedlich zu bearbeiten, ohne die politische Freiheit einzuschränken, da demokratische Institutionen Konflikte strukturieren, absorbieren und regeleitet beilegen können. Dies setzt allerdings die Einbettung der demokratischen Institutionen in eine lebendige Civic Culture voraus. Optimistisch stimmt, dass sich die Demokratie historisch gesehen als enorm anpassungsfähig erwiesen und bereits mehrere Transformationen durchlaufen hat (Dahl 1989). Angesichts der Veränderungen der sozialen, wirtschaftlichen und insbesondere auch der technologischen Rahmenbedingungen ist davon auszugehen, dass sich die Demokratie auch in Zukunft weiterentwickeln wird.
Als Abschluss dieser Überlegungen möchten wir folgendes Fazit ziehen: Die Demokratien werden auch in Zukunft Probleme haben. Damit geben wir uns als Optimisten zu erkennen, die davon ausgehen, dass die angesprochenen Herausforderungen grundsätzlich bearbeitbar sind und die Demokratien diese auch meistern können. Demokratie ist ein partizipatives, institutionelles Verfahren, dass sich historisch bewährt hat. Im Kern bietet sie einen Entscheidungsmechanismus, der auch in Zukunft dazu beitragen kann, gesellschaftliche Konflikte friedlich zu regulieren.
Ellen BOS und Zoltán Tibor PÁLLINGER
Literaturverzeichnis
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