„Wir reden hier von inneritalienischen Problemen, da braucht es keine Kompetenzen für Wien“ - lautete die jüngste Aussage des italienischen Ministerpräsidenten Monti am 25. Oktober 2012 in einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung „Kurier“. Diese Worte ließen einige Kratzer am Bild Südtirols entstehen, gilt doch das Südtiroler-Modell als positives Beispiel dafür, dass eine Autonomie gut funktionieren kann. Für den Erfolg des Autonomie-Modells waren drei Elemente notwendig: Minderheitenschutz, die Wirtschaft als Standbein sowie Zeit – so das Fazit der internationalen Konferenz „Südtirol in Vergangenheit und Gegenwart“, die vom 21. bis zum 22. November an der Andrássy Universität Budapest (AUB) stattfand.
Eröffnet wurde die Konferenz durch den Prorektor der Andrássy Universität Stefan Okruch, den österreichischen Botschafter Michael Zimmermann und der Leiterin des Österreichischen Kulturforums Susanne Bachfischer.
Botschafter Ludwig Steiner, der an der Ausverhandlung des Südtirol-Pakets maßgeblich beteiligt war, leitete die Konferenz mit persönlichen Erinnerungen ein. In seiner keynote speech unterstrich er den einzigartigen Charakter der heutigen Landes Südtirols, welches „von den Südtirolern selbst geschaffen worden ist“. Das intellektuelle Potential des Landes machte es, so Steiner, möglich, dass es sich auch wirtschaftlich weiterentwickeln konnte. „Eine Autonomie ohne finanzielle Basis ist keine gute Autonomie“ – so sein Resümee.
Michael Gehler (Obmann der Historischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) stellte in seinem Vortrag 15 Thesen über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft Südtirols auf, um dann abschließend auf die historische Kompromisslösung der Paketentscheidung von 1969 einzugehen. Er betonte, dass Mario Montis Aussage über Südtirol als eine "inneritalienische Angelegenheit" nichts Neues in der Geschichte der italienischen Südtirolpolitik, sondern ein "Dauerbrenner" sei, umso erstaunlicher jedenfalls, als vormalige internationale Vereinbarungen über Südtirol offenbar dem italienischen Regierungschef nicht bekannt seien. Nach wie vor herrsche offensichtlich "der lange Schatten des Nationalstaats in Europa. Das ist die Realität“ – so Gehler. In Bezug auf die Vergangenheit Südtirols bezeichnete er die Südtirolfrage als Ergebnis des durch den Ersten Weltkrieg vollkommen entfesselten italienischen Nationalismus, der durch Expansionsbestrebungen nicht nur in Afrika, sondern auch im Alpenraum gekennzeichnet war. Die bereits in der Vergangenheit und aktuell als Reaktion auf Montis Aussage erneut von Wien betonte Schutzmachtstellung für Südtirol erhielte dadurch eine neue Dimension. Sobald jedenfalls die Autonomie angezweifelt werde, sei die Südtirol-Frage erneut gestellt, die Geschichte somit "wieder auf dem Tisch und der Ausgang offen", so Gehler.
Herbert Küpper (Institut für Ostrecht, Wissenschaftszentrum Ost- und Südosteuropa Regensburg) setzte sich in seinen Ausführungen mit den Begriffstermini Autonomie und Selbstverwaltung auseinander. Öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungen seien beispielsweise in Ungarn verbreitet, „da dort keine funktionierende Zivilgesellschaft vorhanden ist“ - so Küpper. Zur Entstehung einer Autonomie bedürfe es dennoch mehr als einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Die Schutzmachtfunktion der „Zuständigen“, wie auch die enge Zusammenarbeit der betroffenen Staaten seien dabei unerlässlich. Eine gezielte Raumplanung, wie sie sich in Südtirol als Grundstein der Autonomie erfolgreich etablierte, könnte für ähnliche Bestrebungen im europäischen Raum ebenfalls von Interesse sein.
Am zweiten Tag der Konferenz folgte das zweite Panel mit den Vorträgen von Herbert Speckner (Landesverteidigungsakademie Wien), Paul Luif (Österreichisches Institut für Internationale Politik Wien) und Koloman Brenner (Eötvös Loránd Universität Budapest). Speckner referierte über seine Forschungsergebnisse zu den Ereignissen rund um den Anschlag in der Porzescharte am 25. Juni 1967, der als Höhepunkt des Südtirolproblems gilt. Luif behandelte in seinen Ausführungen die Rolle der Südtirolfrage in der Annäherung Österreichs an die EU bzw. die Bedeutung Südtirols im Prozess des EU-Beitritts Österreichs.
Koloman Brenner verglich in seinem Vortrag die Sprachpolitik gegenüber der deutschsprachigen Bevölkerung in Südtirol und Ungarn. Er machte auf das Problem aufmerksam, dass es bislang kein einheitliches und bindendes EU-Recht bezüglich der Minderheitenrechte gibt. Brenner zeigte dabei folgend Parallelen zwischen Südtirolern und Ungarndeutschen auf: Nach dem Ersten Weltkrieg herrschten sowohl in Italien, als auch in Ungarn autoritäre Regime mit einer restriktiven Sprachpolitik. Beide deutschsprachigen Minderheiten waren in der Zwischenkriegszeit und auch während des Zweiten Weltkriegs zum Spielball von Hitler-Deutschland und Italien/Ungarn geworden. Beide Minderheitengruppen bilden heute mit ca. 500.000 Personen zahlenmäßig ähnlich große Gemeinschaften und die einzige starke nationale Minderheit in Italien bzw. Ungarn. Beide wirken der Assimilation gezielt entgegen. Die Stellung der deutschsprachigen Minderheit in Ungarn sei in der Zwischenkriegszeit durch die revisionistische Politik der Budapester Regierung und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Vertreibungs- und Assimilierungsprogramme des kommunistischen Regimes stark geschwächt worden. Heute kämpfe die deutsche Minderheit stets für eine sichere Zukunft und die Neubelebung der deutschen Sprache – so das Resümee Brenners.
Christoph Pan (Leiter des Südtiroler Volksgruppeninstituts Bozen) betitelte seinen Vortrag „Minderheitenschutz in Europa mit Bezug auf Südtirol: Zwischen Gewalt und Vernunft, vom Konflikt zum Mehrwertpotenzial“. In Europa leben im zufolge heute ca. 350 ethnische und nationale Minderheiten. Jeder siebte Europäer sei somit Angehöriger einer Minderheit. „Dies ist ein riesiges Konfliktpotenzial. Minderheitenschutz ist immer eine Gratwanderung zwischen Vernunft und Gewalt “ – betonte Pan, der auch die Gründe für den Erfolg des Südtiroler Modells erläuterte. Den Hauptgrund sieht er in der wirtschaftlichen Stärke Südtirols, das heute eine Vollbeschäftigung verzeichnet und zu den zwanzig am meist entwickelten NUTS2-Regionen zählt. Zusammenfassend unterstrich er, dass „Minderheitenpolitik nur in einem europäischen Zusammenhang gesehen werden kann“.
„Korrekturen am Südtirol-Bild“ lautete der Titel des Vortrags von Reinhard Olt (Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung i.R.). Olt bezeichnete Südtirol als eine Erfolgsgeschichte, auf die er auch immer wieder in seinem publizistischen Wirken aufmerksam gemacht habe. Olt zeigte sich besorgt über in der Tatsache, dass die „Rom-Bewegung“ immer stärker werde und sich eine Führungskrise innerhalb der SVP (Südtiroler Volkspartei) abzeiche. „Das System Durnwalder zerbricht, er ist beim ‚Herbst seines politischen Daseins‘ angekommen“ – so das Fazit von Olt.
Der abschließende Vortrag mit dem Titel „Die Grundsätze der Südtirolautonomie im Lichte neuer Herausforderungen“ von Alice Engl (European Academy of Bozen/Bolzano) beleuchtete die Definitionen des ethnischen Proporzes, die Sprachgruppen-Zugehörigkeitserklärung, die Zweisprachigkeit, den Unterricht in der Muttersprache sowie das Finanzierungssystem vor und nach dem Mailänder Abkommen 2009, das auf dem Prinzip „neun Zehntel auf alles“ beruht. Südtirol ist demnach künftig an allen im Land eingehobenen Steuern zu 9/10 beteiligt, so auch an der Körperschaftssteuer IRES, der Mineralölsteuer, der Versicherungssteuer, der Steuer auf Finanzprodukte oder an den Abgaben auf Glücksspiele.
Das Schlusswort übernahm Christina Griessler (netPOL), die sich bei dem Organisationsteam, insbesondere bei Richard Lein für seine Koordination, den Förderern und den Referenten bedankte. Gleichzeitig betonte sie die Wichtigkeit der Fortsetzung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema auch in einem europäischen Kontext.
Das Zustandekommen der Konferenz anlässlich des 45-jährigen Jubiläums des Höhepunkts der Südtirol-Anschläge unterstützten das Land Südtirol, die Österreichische Botschaft Budapest, das Österreichische Kulturforum Budapest und das Netzwerk Politische Kommunikation. Konzipiert und durchgeführt wurde sie von den AssistentInnen und wissenschaftlichen MitarbeiterInnen der Andrássy Universität.
Text: Melani Barlai
(Organisiert wurde die vom Land Südtirol finanziell großzügig unterstützte Veranstaltung von wissenschaftlichen MitarbeiterInnen der Fakultäten MES (Mitteleuropäische Studien) VSR (Vergleichende Staats- und Rechtswissenschaften) und IB (Internationale Beziehungen) der Andrássy Universität Budapest.