Einen Einblick in verschiedene juristische Themen erhielten Studierende der Fachhochschule des BFI Wien im Rahmen einer Vortragsreihe an der Andrássy Universität. Insgesamt fünf (Online-)Vorträge fanden in der Woche vom 5. bis zum 8. Mai statt. Es referierten vier Lehrende der Andrássy Universität sowie Prof. Mag. Dr. Harun Pacic von der Fachhochschule des BFI Wien.
Den Auftakt machte Priv-Doz. Dr. Attila Vincze mit dem Thema Rechtsschutz im Europäischen Vergaberecht. Im Allgemeinen sei in subjektiven und objektiven Rechtsschutz zu unterscheiden. Dabei bestehen verschiedene Systeme im europäischen Raum. Offene Systeme ermöglichen einen leichten Zugang zur Gerichtsbarkeit. Geschlossene Systeme, wie sie typischerweise in Deutschland oder Österreich gelten, bieten einen beschränkten Zugang zu Gerichten und die Geltendmachung von möglichen Verletzungen subjektiv-öffentlicher Rechte ist hierfür erforderlich („Verletztenklage“, im Gegensatz zur „Interessenklage“ in offenen Systemen). Das Vergaberecht war historisch gesehen reines Haushaltsrecht und sah keinen subjektiven Rechtsschutz vor. Heute sei das Vergaberecht ein prozeduralisiertes Vertragsabschlussystem mit Interesse am reibungslosen Ablauf des öffentlichen Vergabeverfahrens. Nach klassischem Verständnis, so Vincze, sei dies kein subjektives öffentliches Recht. Mittlerweile gebe es aber Rechtsschutzmöglichkeiten im Unionsrecht, die mit der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG geschaffen wurden. Einander gegenüber stünden dabei jedoch das öffentliche Interesse an einem möglichst schnellen und problemlosen Vergabeverfahren und das Rechtsschutzbedürfnis Einzelner. Weiterhin unklar ist die Kontrolle von Rechtsverstößen im Vergaberecht, wie Vincze anhand einer Reihe von EuGH-Entscheidungen darstellte.
Über aktuelle Entwicklungen im EU-Beihilfenrecht referierte Dr. Miklós Szirbik. Im Beihilfenrecht treffen Szirbik zufolge verschiedene Interessen aufeinander. Grundsätzlich seien Beihilfen laut Artikel 107 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union verboten. Allerdings seien einige Ausnahmen im Artikel selbst vorgesehen. Derzeit ist ein Europäischer Aufbauplan für die EU nach der COVID-Krise vorgesehen. Mit insgesamt 1,8 Billionen Euro soll die EU dann digitaler, nachhaltiger und krisenfester gemacht werden. Von Aktualität ist auch die Debatte um das Wettbewerbsrecht der EU mit der zentralen Frage, ob ein strenges Wettbewerbsrecht die wirtschaftlichen Entwicklungen beflügelt oder ihnen schadet.
Im darauffolgenden Vortrag referierte dr. Leszek Dziuba über die Reichweite der Gestaltungsfreiheit in Ungarns neuem GmbH-Recht. Das im Jahr 2013 verabschiedete neue Bürgerliche Gesetzbuch Ungarns brachte hierfür eine grundlegende Neuausrichtung. Zentrales Ziel der Neuregelung war es, die Privatautonomie hinsichtlich der „internen Angelegenheiten” der Gesellschaft durch Einräumung flexiblerer Regelungsrahmen so weit wie möglich anzuerkennen. Grundlage hierfür ist ein rechtsformübergreifendes und gestaltungsfreundlich angelegtes Gestaltungsfreiheitskonzept. Laut Dziuba wirken diesem Regelungsziel allerdings viele offene Fragen entgegen. Gravierend seien die Unzulänglichkeiten einer am Wortlaut orientierten Auslegung der Einzelvorschriften. Auch herrschten bereits große Unsicherheiten bei der Erschließung des subjektiven Willens des Gesetzgebers in Bezug auf grundsätzliche Modalitäten der Gestaltungsfreiheit. Insgesamt biete es allerdings ein beachtliches Potenzial für neue, praxisnahe Gestaltungen, auch wenn der Wortlaut einzelner Vorschriften mit dem zentralen Anliegen des Konzepts nicht immer völlig im Einklang zu stehen scheint.
In die rechtsphilosophische bzw. ethische Sphäre drang Prof. Dr. Harun Pacic mit seiner Analyse des kritischen Denkens am Beispiel der Apologie des Sokrates vor und veranschaulichte damit das Zusammenwirken von Recht, Politik und Ethik. Die Verteidigungsrede des Sokrates wurde von seinem Schüler Platon und später auch von Xenophon niedergeschrieben. Sokrates, der angeklagt wurde wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend, argumentiert in seiner Verteidigung mit der Vernunft. Ihm ging es nämlich nicht um Glaubensfragen an sich, sondern er verlangte vom Gericht eine rationale Begründung für seine Anklage. Es sei ihre Aufgabe, ihm schlüssig darzulegen, worin seine Rechtsverletzung liege. Seine Methode der Erkenntniskritik ließ ihn nach dem Allgemeinen fragen, nach Definitionen, unter die dann einzelne Beispielfälle subsumiert werden können. Laut Pacic ging es Sokrates um die „schlusslogische Letztbegründung“. Er habe während seines Verfahrens ethischen Widerstand geleistet und wurde letztlich ohne Rechtsgrund und ethisch gesehen ungerecht zum Tode verurteilt. Den Vortrag schloss Pacic mit der Erkenntnis, dass Sokrates uns die Vernunft ans Herz legte, indem er für die Kritik, die er lebte, starb.
Den Sprung in die Neuzeit wagte schließlich Dr. Dóra Frey, die in ihrem Vortrag den Bezug des ungarischen Grundgesetzes von 2011 auf die historische Verfassung Ungarns herausarbeitete. Die erste einheitliche Verfassung Ungarns von 1949 wurde damals nach sowjetischem Vorbild als sozialistische Verfassung entworfen und schließlich mit dem Systemwechsel im Jahr 1989 durch eine umfassende Verfassungsänderung reformiert. Vor zehn Jahren wurde nach dem Wahlsieg der FIDESZ-Partei, die nun die verfassungsgebende Mehrheit stellte, das ungarische Grundgesetz als neue Verfassung verabschiedet. Gründe für den überraschend schnellen Vorschlag einer neuen Verfassung war, dass die Revision des Gesetzes 1949:XX, das ursprünglich als Provisorium gedacht und nicht ausreichend demokratisch legitimiert war. Außerdem waren die Grundrechte nicht hinreichend ausgearbeitet und befanden sich am Ende des Verfassungstextes. Es gab allerdings auch Kritik an der als überstürzt empfundenen Verabschiedung einer neuen Verfassung durch die FIDESZ-Mehrheit. Gesellschaft, Wissenschaft und auch die Opposition seien nicht ausreichend an der Verfassungsgebung beteiligt gewesen. Im nationalen Bekenntnis dieser neuen Verfassung wird schließlich Bezug genommen auf die „historische Verfassung“ und die Verfassung von 1949 wird ausdrücklich abgelehnt. Bis 1949 habe Ungarn jedoch keine einheitliche Verfassung gehabt, so Frey, und die historische Verfassung bestand aus mehreren Dokumenten, Prinzipien und ungeschriebenen Verfassungstraditionen. Diese Dokumente seien zum Teil heute völlig obsolet und es ist unklar, was zur historischen Verfassung gehört und was nicht. Frey kam zu dem Schluss, dass der Bezug des aktuellen Grundgesetzes auf die historische Verfassung und das dadurch suggerierte historische Bild zwar nicht unproblematisch ist, allerdings ein eher symbolischer ist und kein juristisches Problem darstellt.
Schilan Stach