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Prof. Paul Lendvai besuchte die AUB im Rahmen einer Promotionstour für sein neues Buch „Ausztria álarc nélkül“ (Österreich ohne Maske)“ für ein Gespräch mit Prof. Ellen Bos, in dem die derzeitige politische Situation in Ungarn im Fokus stand. Ein interessiertes Publikum in einem gut gefüllten Andrássy Saal verfolgte die ca. 1,5-stündige Veranstaltung.
Bos begann das Gespräch mit Fragen über die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn. Laut einer aktuellen Umfrage zu den außenpolitischen Einstellungen Ungarns sprachen sich 90 Prozent der Befragten für engere Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn aus. Wie weit könnte auch der Anstieg des Rechtspopulismus in Österreich, insbesondere jener der FPÖ, Anlass für die Orbán-Regierung sein, die Beziehungen beider Länder zu stärken? Lendvai sprach von einer engen Partnerschaft zwischen Österreich und Ungarn. Demnach gebe es durchaus Ähnlichkeiten, unter anderem habe nicht nur Ungarn, sondern auch Österreich rechtspopulistische Politiker. Unterschiede gebe es jedoch vor allem bezüglich der politischen Systeme, da Österreich zum Beispiel über freie Medien verfüge, was nicht der Fall in Ungarn sei. Obwohl von Orbán angestrebt, habe Ungarn bis heute nicht das Niveau Österreichs bei der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht. Lendvai stellte fest, dass sich die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Österreich und Ungarn seit der Wende sogar vergrößert hätten.
Ein weiteres Thema, das Bos ansprach, war die ungarische Demokratiequalität. Da die Fidesz-KDNP Regierung seit Jahren über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, habe sich auch die Demokratiequalität verschlechtert. Ungarn werde oft nicht mehr als Demokratie eingestuft, so Bos. In der Literatur findet man eine Reihe von Versuchen, das politische Regime zu beschreiben, unter anderem bezeichnet Körösény Ungarn als „plebiszitäre Führerdemokratie“, Török als ein „hinter massendemokratischer Fassade errichtetes Königtum“, Magyar als einen „postkommunistischen Mafiastaat“, Konrad als ein „hybrides System einer Wahlautokratie“ oder eben als „hybrides Regime“. Könnte man das Orbán-Regime mit dem Kadár-Regime Ende der 1980er vergleichen? Lendvai konstatierte, dass Ungarn eine stark beschädigte Demokratie sei. Die Frage, ob das Orbán-Regime mit der Endphase des Kádár-Regimes vergleichbar ist, lehnte er mit dem Argument ab, dass die Systeme nicht wirklich miteinander vergleichbar seien, da es immer besondere Umstände gebe, die diese Regime kennzeichnen. Lendvai stellte sogar die Behauptung auf, dass die Medien in den letzten Jahren des kommunistischen Systems freier gewesen seien, als sie heute sind. Das Schlimmste am heutigen System sei die Korruption, die es unter Kadár in der Form nicht gegeben habe. Ungarn ei ein hybrides System, aber es sei ein besonderes System und könne deshalb nicht mit dem Kádár-Regime verglichen werden.
Für Bos stellte sich auch die Frage nach der Überlebensfähigkeit des Orbán-Systems. In kürzlich gehaltenen Interviews haben Zsuzsanna Szelényi und Gábor Török die Situation sehr unterschiedlich eingeschätzt. Während Szelényi davon ausgeht, dass das System um 2019 bereits den Höhepunkt überschritten hat und sich aufgrund der hohen Kosten für Loyalitätseinforderung bereits im Niedergang befindet, behauptet Török, dass sich das System so verfestigt hat, dass es auch ohne Orbán weiter bestehen wird. Laut Lendvai gibt es niemanden, der Orbán Probleme machen könnte, vor allem weil eine relevante Opposition fehle. Außerdem sei eine neutrale Berichterstattung nicht gewährleistet, weil sich die Medien in der Hand der Regierung und befreundeter Geschäftsleute befinden. Eine starke Zivilgesellschaft wie z. B. in Polen vermisse er in Ungarn ebenfalls. Es gebe nur eine dünne Schicht der ungarischen Gesellschaft, die von der Regierung profitiere und der Rest kooperiere, wie unter Kadár. Lendvai betonte, bei Ungarn handle es sich um einen Sonderfall, der es möglich mache, dass ein diskreditierter ehemaliger Premierminister Ferenc Gyurcsány, die Leitung seiner Partei an ein anderes Familienmitglied, seine Frau Dobrev Klára, abgibt, die aufgrund ihrer Familiengeschichte als Politikerin nicht unproblematisch sei. Gergely Karácsony, der derzeitige Bürgermeister von Budapest, habe nicht den notwendigen „push“ Orbán wirklich gefährlich zu werden, meint Lendvai. Nach seiner Niederlage 2002 habe Orbán sehr geschickt und diszipliniert begonnen, eine Bürgerbewegung in Ungarn aufzubauen. Laut Lendvai wäre es auch die Aufgabe der jetzigen Opposition, stärker auf die Leute und in den Städten, Orten und Dörfer zu zugehen. Die Situation sei derzeit so, dass dreimal mehr Leute auswandern als 1956. Das weise auf eine Desillusion in einem Teil der Bevölkerung hin. Die 13 Jahre der Orbán-Regierung haben Schäden auf der Seele hinterlassen, so Lendvai. Die Opposition sei zu schwach, um Orbán zur Gefahr zu werden.
Bos sprach auch die Neuausrichtung der ungarischen Außenpolitik seit 2014 an. Sie erwähnte, dass es zu einer Ablehnung einer wertebasierten Außenpolitik kam und die Verankerung in EU und NATO durch eine Politik der „Öffnung nach Osten“ ergänzt wurde. Gleichzeitig priorisiere Orbán seine außenpolitischen Partnerschaften zu den anderen „starken Männern“ wie Putin, Erdogan oder Vućič. Lendvai bestätigte, dass Ungarn sich auf außenpolitischer Ebene von der werteorientierten Außenpolitik entfernt habe. Das außenpolitische Verhalten Ungarns, insbesondere im Zusammenhang mit dem Krieg Russlands, habe dazu geführt, dass das Europäische Parlament darüber diskutiert, ob Ungarn in der zweiten Hälfte 2024 überhaupt den EU-Ratsvorsitz übernehmen solle. Die ungarische Politik richte sich derzeit nicht an den EU-Werten und Prioritäten aus. Im Gegenteil, Ungarn praktiziere eine totale Abhängigkeit und Solidarität mit Russland. Seit einem Treffen von Putin und Orbán in St. Petersburg in 2009 seien die Beziehungen zwischen beiden sehr gut. Insgesamt haben sich beide bereits 11-mal getroffen.
Lendvai verwies darauf, dass die EU die Aufgabe der Opposition in Ungarn nicht übernehmen könne. Angela Merkel habe nie ein ernstes Wort zu Orbán gesagt. Nur als es um den deutsch-finanzierten Fernsehsender RTL ging, sei über inoffizielle Kanäle Druck auf die ungarische Regierung ausgeübt worden. Hier seien auch Fehler gemacht worden. Im Zusammenhang mit den „starken Männern“ erwähnte Lendvai, dass der ungarische Außenminister Péter Szijjártó im Mai 2023, den durch eine Reihe von Großdemonstrationen unter Druck geratenen serbischen Präsidenten Vućič, unterstützte, indem er an einer von Vućič selbst organisierten Gegendemonstration teilgenommen habe. Auch der türkische Präsident Erdogan stehe auf der Liste jener Politiker, mit denen die ungarische Regierung versuche, gute Beziehungen zu pflegen. Trotzdem ist es laut Lendvai ein Fakt, dass die EU im Bereich der Wirtschaft eine unumgängliche Realität für Ungarn darstellt. Auch das Visegrad-Bündnis sei nie wirklich stark gewesen und Lendvai ist der Meinung, dass es jetzt auch zu Ende gehen werde. Die EU habe zu spät und zu langsam auf die Entwicklungen in Ungarn reagiert. Wie kann die EU gegen die Nichteinhaltung Werte vorgehen, und zwar so, dass es das System und nicht die Menschen trifft? Das sei keine ungefährliche Situation, so Lendvai. Man könne die Geschichte aber nicht vorhersagen. Für den Machterhalt seien sie alle zu allem zu allem bereit.
Zum Ende des Gesprächs wurde noch die Persönlichkeit von Viktor Orbán diskutiert. Bos sprach davon, dass er sich von einem jungen liberalen Reformer zu einem konservativen, rechtspopulistischen Politiker und Ministerpräsident mit autoritärem Regierungsstil entwickelt habe und wie das zu erklären sei. Lendvai meinte, dass er Orbán nicht gut persönlich kenne, aber er kenne, was er geschrieben hat. Es war 1993, als sich Orbán aus strategischen Überlegungen von einer liberalen Politik abgewandt habe und sich an einer nationalkonservativen Politik orientierte. Ausschlaggebend sei die Abspaltung der SZDSZ (Szabad Demokraták Szövetsége – Bund freier Demokraten) gewesen. Orbán sei ein Zyniker. Er sei sehr geschickt vorgegangen, um an die Macht zu kommen und später, um an der Macht zu bleiben. Intern wurde jegliche Konkurrenz entfernt. Nach außen hin wurden Feindbilder wie Soros geschaffen.
Lendvai glaubt, dass Orbán eigentlich nie so liberal war, wie er sich gegeben hat. Der Kampf gegen den Kommunismus habe gerade 6 Minuten lang angedauert, als er eine Rede zur Umbettung des Leichnams von Imre Nágy hielt. Zum damaligen Zeitpunkt sei es auch nicht mehr so gefährlich gewesen, jene Dinge zu sagen, die Orbán gesagt hat. Trotzdem inszeniere sich Orbán gerne als Freiheitskämpfer, obwohl seine Eltern eigentlich Nutznießer des Kadár-Regimes gewesen seien. Lendvai glaubt deshalb, dass Orbán keinen tiefgehenden inneren Wandel durchgemacht habe, er sei immer ein Kämpfer gewesen – bis heute.
Fragen des Publikums beendeten die Gesprächsrunde.
Die Veranstaltung wurde vom Österreichischen Kulturforum Budapest unterstützt.
Christina GRIESSLER