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Einsichten in die Ukraine – Entwicklungsperspektiven seit 1989
Am 30. Mai hielt Mmag. Andreas Wenninger vom Österreichischen Außenministerium an der AUB einem öffentlichen Vortrag zur Einordnung der Situation in der Ukraine.

Die Veranstaltung wurde vom Mitteleuropa-Zentrum gemeinsam mit dem Österreichischen Kulturforum ausgerichtet und konnte sowohl live als auch über Zoom verfolgt werden. Assoz. Prof. Dr. habil. Georg Kastner, Leiter des Lehrstuhls für Mitteleuropäische Geschichte und Christian Autengruber, Direktor des Kulturforums, begrüßten den Gast, der seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine von Wien aus arbeitet. Herr Wenninger ist Attaché für Wissenschaft und Bildung der Österreichischen Botschaft Kyjiw und Leiter des OeAD Kooperationsbüros in Lemberg, wo er die letzten 20 Jahre auch ansässig war – bis zum 24. Februar 2022.

Der Angriff Russlands kam für viele im Land nicht überraschend, so Herr Wenninger, auch für ihn und die Botschaft nicht. Womit aber niemand in seinem Umfeld gerechnet hatte, war das Ausmaß der Bombardierungen, die bereits vom ersten Tag an auch Militärinfrastruktur im Raum Lemberg betrafen. Und trotz der Erwartung des Konfliktes fanden sich die Menschen über Nacht in einer neuen Welt wieder und musste sich nicht zuletzt die Botschaft völlig neu aufstellen. So ist ein Teil des Personals nach Ushgorod an der Grenze zu Polen verlegt worden und ein Teil bereits im März nach Kyjiw zurückgekehrt, während das Kooperationsbüro aus Wien operiert. Die Erfahrungen des digitalen Arbeitens aus Pandemiezeiten waren eine gute Vorbereitungen, um die Zusammenarbeit mit ukrainischen Kunst- und Kulturschaffenden sowie Bildungseinrichtungen ohne zu große Unterbrechungen fortzusetzen – wenn auch unter gänzlich neuen Bedingungen. Denn die langjährigen Beziehungen sowohl des Lemberger Büros als auch des Kulturforums in Kyjiw sowie die zahlreichen Projekte in Wissenschaft, Kunst und Journalismus sollen weitergehen – jetzt erst recht.

Anzeichen für einen Angriff hatte es bereits länger gegeben, so Herr Wenninger, denn Russland hat sich über viele Jahre nicht nur militärisch, etwa in Tschetschenien und Syrien, sondern auch ideologisch darauf vorbereitet. Die Kreml-Ideologen mussten schon ab 2007 nicht nur für den innenpolitischen Markt arbeiten, sondern auch eine Ideologie für die Expansion des Imperiums nach außen erfinden. Eine solche Ideologie wurde die „Russische Welt“ (Ruski Mir). Es ist das Konzept einer internationalen Gemeinschaft, die durch die Zugehörigkeit zu Russland und das Engagement für die russische Sprache und Kultur verbunden ist. Nach diesem Mythos bezeichnet das Wort „Russisch“ die historischen Ursprünge der Gemeinschaft, die ihren Anfang bei der alten (Kyjiwer) Rus nimmt und daher die Ukraine, Belarus und Russland umfasst. Die Stiftung Ruski Mir wurde 2007 gegründet und war zuletzt in 45 Ländern der Welt tätig. In Österreich war sie an den Universitäten Innsbruck (seit 2011) und Salzburg (seit 2015) ansässig, nach der Invasion wurden jedoch beide Sponsorenverträge gekündigt.

Kernelement der Ideologie ist die Inszenierung des Kriegs als Fortsetzung des „Großen Vaterländischen Kriegs“ gegen Nazideutschland. Damit trifft man den zentralen historischen Mythos des heutigen Russlands, den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg, den Russland für sich beansprucht. Schon vor dem Angriff auf die Ukraine 2014 wurden in groß angelegten Kampagnen in Russland Ukrainer als Faschisten dargestellt, als „besinnungslose Nationalisten“ und als „Russophobe“ und Mörder. Gleichzeitig wurden auch in der Ukraine rechtsextreme und nationalistische Bewegungen finanziert.  Es wurde ein negatives Bild der Ukraine erstellt, um die spätere Aggression gegen sie zu rechtfertigen. Daher handelt die Regierung im Rahmen der öffentlichen Erwartungen, die sie vorher selbst schafft.

Putin bediente sich großrussischer, nationalistischer Ideologen wie Alexander Dugin, der eine Revanche für den verlorenen Kalten Krieg fordert, und Vertretern des Isborsker-Klubs, ein von dem Publizisten Alexander Prochanow im September 2012 gegründeter Think Tank, dem mehrere bekannte nationalistische und traditionalistische Intellektuelle Russlands angehören und sich das Zeil setzten, eine patriotische Staatspolitik zu entwerfen. Ebenfalls zentral ist Waleri Korowin der die Ukraine als ein künstliches Geschichtssubjekt Lenins betrachtet, weshalb sie nie ein echter Staat werden kann, und der 2016 in seiner „Doktrin der russischen Welt“ die Bildung von russischen Interessensphären am Schwarzen Meer und am Balkan propagierte.

Eine Anleitung zum Völkermord in der Ukraine von Timofey Sergeytsev wurde auf der Homepage der offiziellen Presseagentur RIA Nowosti publiziert. In seinem Gastbeitrag wird die „Umerziehung“ der Menschen gefordert sowie eine „strenge Zensur“ und eine „ideologische Unterdrückung nationalsozialistischer Einstellungen“, worunter alle westlichen Einflüsse verstanden werden. Ein Ende der antirussischen Einflüsse müsse es nicht nur auf „politischem Gebiet, sondern zwangsläufig auch auf kulturellem und pädagogischem Gebiet“ geben, so die Forderung. Es wird eine kulturelle und politische Säuberung der Ukraine propagiert, eine Vernichtung der ukrainischen Identität. Weiter schreibt Sergeytsev, die Ukraine dürfe kein souveräner Staat bleiben.

Putin verfasste seine eigene russische Geschichte und die Vision eines russischen Reiches, die er im Juli 2021 unter dem Titel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ veröffentlichte und die weitgehend den Thesen des Isborsker Clubs entspricht. In der Erzählung Putins über die russische Geschichte stoßen wir immer wieder auf Mythen als Instrumente des Propagandakrieges, wie in seiner emotionellen Ansprache am 23. Februar 2022, einen Tag vor Beginn der Invasion, in der er sein Modell des russischen Reiches erklärte.

Trotzdem sollte die Rolle der Ideologen nicht überschätzt werden, da es zuallererst um handfeste geopolitische Interessen geht. Denn für Putin war die zunehmende „Verwestlichung“ der Ukraine spätestens seit den Protesten in Kyjiw 2013 und 2014 („Euromaidan“) schon deshalb inakzeptabel, da er den einzigen Zugang seines Landes zum Mittelmeer über den Hafen in Sewastopol mit der Abnahme russischen Einflusses in der Ukraine gefährdet sah. Für ihn ist sie kein eigenständiger Staat, sondern Teil Russlands und darf keinesfalls dem Westen zufallen.

Trotzdem spielen diese Erzählungen eine wichtige Rolle in einem hybriden Krieg, der bereits seit Jahren andauert und zu dessen Waffen auch Cyberangriffe und Desinformationen gehören. Wohl auch deshalb war es für den Kreml überraschend zu sehen, wie schnell und geschlossen der Westen auf den Angriff reagierte. Wie lange diese Geschlossenheit andauern kann, gerade in Anbetracht der immer spürbareren Auswirkungen auch bei uns, ist zwar nicht abzusehen, dennoch zeigt sich hier wie auch in den fehlenden militärischen Erfolgen in den ersten Kriegswochen, dass der Widerstand deutlich unterschätzt wurde.

Ein baldiges Ende des Krieges erwartet der Experte nicht, da beide Seiten noch auf zahlreiche Ressourcen zurückgreifen können. So hat die russische Armee mit ihrer neuen, konzentrierten Strategie in Mariupol erste Erfolge verzeichnen können. Unter diesen aktuellen Umständen ist ein Friedensabkommen unwahrscheinlich, zumal sich angesichts des Bruchs des Budapester Memorandums, in dem Russland 1994 der Ukraine ihre territoriale Integrität zugesichert hatte, die Frage stellt, wie ein solches Abkommen garantiert werden kann – ein zentraler Grund für das Scheitern der Minsker Abkommen. Präsident Selenskyj hat schon jetzt angekündigt, dass ein mögliches Verhandlungsergebnis auf jeden Fall einem Referendum in der Ukraine unterzogen werden müsste, um Stabilität zu gewährleisten.

Die Pläne der EU zur Unterstützung des Wiederaufbaus der Ukraine begrüßte Herr Wenninger, betont dabei aber die Wichtigkeit von Strukturen, die die Gelder begleiten, um Korruption vorzubeugen. In der langen Zeit, die er in der Ukraine gelebt hat, konnte er zahlreiche Reformen und besonders seit 2014 eine sehr positive Entwicklung beobachten. Natürlich gibt es bei den Institutionen noch viel Lernbedarf, aber die Voraussetzungen für eine freie, demokratische Gesellschaft sind gegeben. Unter der Führung von Präsident Selenskyj sind im aktuellen Krieg auch sonst widerstreitende Parteien geeint und kämpfen Seite an Seite. Wenn es je Zweifel gab an der eigenen nationalen Identität der Ukraine – der Angriff Russlands hat sie beseitigt.

In der anschließenden Diskussion betonte Herr Wenninger die zentrale Rolle Kunst- und Kulturschaffender gerade auch im Exil, um die ukrainische Kultur zu verbreiten. Auch lobte er die Rolle der westlichen Berichterstattung, die sich seit der Annexion der Krim deutlich verbessert habe und nicht mehr russischer Propaganda aufsitze. Eine Revolution in Russland sieht er aktuell nicht als wahrscheinlich an, da die wenigen Protestierenden verhaftet werden und sowohl das Militär als auch der Geheimdienst hinter Putin stehen. Möglicherweise könnten die Mütter der vielen getöteten Soldaten hier einen Unterschied machen, sollten sie sich zusammenschließen, aber das ist aktuell nur Spekulation.

Von Andreas WENNINGER und Frauke Mogli SEEBASS

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