Mit dem Beitritt Kroatiens 2013 war die bisher größte Erweiterungsrunde der EU, die sogenannte Osterweiterung, abgeschlossen. Damit kann im Jahr 2024 zumindest die erste Gruppe der “neuen” östlichen Mitgliedstaaten das 20-jährige Jubiläum des Beitritts feiern. Gleichzeitig finden zwischen dem 6. und 9. Juni 2024 auch die zehnten direkten Wahlen des Europäischen Parlaments statt. Glaubt man den Ergebnissen der Meinungsforschungsinstitute, ist allerdings wenige Monate vor dem Jubiläum und den Europawahlen keine festliche Stimmung zu spüren. Die Gemeinschaft steht vor großen Herausforderungen und der Vorrat an politischen Gemeinsamkeiten zwischen den Mitgliedstaaten hat stark abgenommen, was die Suche nach zukunftsweisenden Lösungen immer schwerer macht.
Ein Blick auf die letzten beiden Dekaden offenbart, dass sich die EU in dieser Zeit mit zahlreichen innen- und außenpolitischen Herausforderungen konfrontiert sah. Die Subprime-Krise in den USA von 2008 entwickelte sich zu einem veritablen ökonomischen Flächenbrand, der in der EU in der (griechischen) Schuldenkrise kulminierte. Ebenfalls im Jahr 2008 eskalierte der Konflikt zwischen Russland und Georgien um Südossetien zu einer kriegerischen Auseinandersetzung. Zwei Jahre später, machte der Arabische Frühling, der im Dezember 2010 begann, deutlich, dass sich Europa nicht von geopolitischen Ereignissen abkoppeln kann. Auch die völkerrechtswidrige Annexion der zur Ukraine gehörenden Krim durch Russland im Jahr 2014 führte die außenpolitische Exponiertheit der EU vor Augen. Dies gilt genauso für die insbesondere durch die Eskalation des Bürgerkrieges in Syrien ausgelöste enorme Fluchtbewegung Richtung Europa, die innerhalb der EU im Jahr 2015/16 zu einer Flüchtlings- und Migrationskrise führte. Der Bürgerkrieg in Syrien war seinerseits eine Spätfolge des arabischen Frühlings.
Im Jahr 2016 kam es dann zu einem noch nie dagewesenen Ereignis in der EU: zum ersten Mal entschied sich in Großbritannien die Bevölkerung eines Mitgliedstaats in einem Referendum für den Austritt aus der Union (Brexit). Damit war der langfristige Trend der stetigen Erweiterung der Union gebrochen. Im selben Jahr gewann Donald Trump die Präsidentschaftswahlen in den USA und erschütterte die Basis der bis dahin als selbstverständlich und solide angesehenen euro-atlantischen Beziehungen. Vor allen Dingen für die europäische Sicherheit bedeutete dies eine fundamentale Herausforderung. Trumps Amtszeit belastete das Verhältnis zwischen der EU und den USA und führte zu einer Diskussion über die Notwendigkeit einer europäischen strategischen Autonomie. Diese Diskussion wurde weiter befeuert durch die Folgen der Ende 2019 ausgebrochenen Covid-19-Pandemie und den seit Februar 2022 geführten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Diese krisenhaften Entwicklungen führten zu Grenzschließungen, dem Zusammenbruch von Lieferketten und einer Krise der Energieversorgung mit drastisch steigenden Energiepreisen, welche wiederum die Inflation in der EU auf lange nicht gekannte Höhen trieben.
Generell sieht sich die Union mit einer sich verschärfenden machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China konfrontiert, die alt hergebrachte Strukturen der Weltpolitik zunehmend in Frage stellt. Gleichzeitig verschieben sich die Schwerpunkte der Globalisierung vom globalen Norden zusehends in den asiatischen Raum. Außerdem beschleunigt sich der wirtschaftliche Wandel aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung und des vermehrten Einsatzes Künstlicher Intelligenz. Schließlich erscheint selbst in den USA und in Europa die Demokratie nicht mehr so stabil wie noch vor wenigen Jahren. Diese Entwicklungen entfalten sich vor dem Hintergrund der immer akuter werdenden Klimakrise. Während die Probleme also stetig zunehmen, scheint die Lösungskapazität westlicher Demokratien und der EU nicht mehr mit den Herausforderungen Schritt halten zu können.
Die neuen Mitgliedstaaten mussten im Vorfeld ihres EU-Beitritts sowohl ihre Wirtschaft als auch ihre politischen Systeme reformieren, da stabile demokratische Institutionen und freie Marktwirtschaften Voraussetzung für die EU-Mitgliedschaft sind. Dank der notwendigen Reformen kam es zunächst zu einer Festigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Allerdings ist nach dem Beitritt schnell deutlich geworden, dass das Bekenntnis zu den Werten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bei einem Teil der politischen Eliten keiner vertieften Überzeugung entsprach, sondern nur im Hinblick auf den Beitritt übernommen wurde. Bereits wenige Jahre nach dem Beitritt setzten in mehreren Mitgliedstaaten Erosionsprozesse von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. Diese haben zu intensiven Konflikten innerhalb der Union geführt.
Auch in wirtschaftlicher Hinsicht konnten eindrückliche Fortschritte erzielt werden. Trotz ihrer geringen ökonomischen Größe wurden die neuen Mitgliedstaaten wichtige Handelspartner der EU 15 und insbesondere Deutschlands. Trotz aller Anpassungsleistungen der Mittel- und Osteuropäischen Staaten sind die Einkommensunterschiede zur “alten” EU aber immer noch signifikant, dies hat in breiten Kreisen zu einer gewissen Desillusionierung geführt, da nicht alle Hoffnungen auf eine schnelle Angleichung an das Wohlstandsniveau der alten Mitgliedstaaten, die mit dem Beitritt zur EU verbunden waren, erfüllt werden konnten. Dennoch ist laut Eurobarometer die große Mehrheit der EU-Bürger (72%) heute davon überzeugt, dass das eigene Land von der Mitgliedschaft in der EU profitiert. Dieser Wert ist seit dem Jahr 2010 kontinuierlich angestiegen. Darüber hinaus fühlen sich auch in den neuen Mitgliedstaaten mindestens 80% der Bevölkerungen als EU-Bürger, in Ungarn, Polen, Estland, Litauen und Slowenien sogar 90% oder mehr. Trotz aller enttäuschter Erwartungen und Kritik an der EU scheint die EU-Mitgliedschaft also dennoch von der Mehrheit als selbstverständlich angesehen zu werden und sich fest im Bewusstsein der Bürger in den neuen Mitgliedstaaten verankert zu haben. Dafür spricht auch, dass 70% der Bürger glauben, dass die Aktivitäten der EU Auswirkungen auf ihr tägliches Leben haben.
Auch wenn sich die EU-Bürger in den letzten Jahren mit einer Pandemie, einem Krieg in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, einer Energiekrise und hohen Inflationsraten konfrontiert sahen, blickt eine große Mehrheit von ihnen (60%) laut der aktuellen Eurobarometer-Umfrage optimistisch auf die Zukunft der EU. Dieser Wert ist zwar gegenüber der letzten Eurobarometer-Umfrage im Frühjahr 2023 um vier Prozentpunkte gesunken, aber nach wie vor sehen die Bürger mit Ausnahme von Frankreich in allen Mitgliedstaaten die Zukunft der EU mehrheitlich positiv. Dabei sind die jüngeren Generationen im Alter von 15 bis 39 Jahren deutlich optimistischer als die älteren.
Gleichzeitig blicken die Bürger der EU aber mehrheitlich pessimistisch auf die weitere Entwicklung ihrer eigenen materiellen Verhältnisse. 73% gehen davon aus, dass sich ihr Lebensstandard im nächsten Jahr verschlechtern wird. 47% gaben an, bereits jetzt eine Verschlechterung zu spüren und ein gutes Drittel hat bereits Probleme gehabt, Rechnungen zu bezahlen. Auch mit der politischen Entwicklung in ihrem Land und sind die EU-Bürger mehrheitlich unzufrieden. 60% der Befragten sind der Meinung, dass sich die Dinge in ihrem Land in die falsche Richtung bewegen. Gleichzeitig vertreten nur knapp die Hälfte der Befragten diese Einschätzung (48%) auch im Hinblick auf die EU, welche damit deutlich besser als die Nationalstaaten abschneidet.
Überdies wünschen sich 53% der Befragten eine wichtigere Rolle des Europäischen Parlaments. Diese Position wird in 21 der 27 Mitgliedstaaten von einer Mehrheit der Bürger geteilt. Dabei sind im Hinblick auf die zu bearbeitenden Politikbereiche mehr als ein Drittel der Bürger der Meinung, dass der Kampf gegen Armut und soziale Exklusion sowie das Gesundheitswesen die wichtigsten Aufgabenfelder darstellen, die das Europäische Parlament in seiner Arbeit priorisieren sollte. Danach folgen Maßnahmen gegen den Klimawandel und die Unterstützung der Wirtschaft sowie die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Trotz der anhaltenden Diskussionen um die in Artikel 2 EUV verankerten europäischen Werte und die Krise der Rechtsstaatlichkeit wird Demokratie von den relativ meisten Bürgern als wichtigster vom EU-Parlament zu verteidigender Wert betrachtet (38%). An zweiter Stelle werden von den Bürgern die Verteidigung der Menschenrechte in der EU und weltweit sowie Rede- und Meinungsfreiheit genannt (27%). An dritter Stelle folgt die Rechtsstaatlichkeit (25%).
Vor diesem Hintergrund werden vom 6. bis zum 9. Juni 2024 die Bürger der EU zum zehnten Mal ihre Vertreter im Europäischen Parlament direkt wählen können. In der aktuellen Eurobarometer-Umfrage bekunden 57% der Bürger Interesse an den Europawahlen und 68% geben an, dass sie wahrscheinlich an den Wahlen teilnehmen werden. Das Interesse an den Wahlen und die Wahlwahrscheinlichkeit sind damit um sechs bzw. neun Prozentpunkte höher als vor den letzten Europawahlen im Jahr 2019.
Angesichts des Erfolges rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien in nationalen Wahlen und ihrem Aufschwung in aktuellen Meinungsumfragen stehen die Europawahlen ganz im Zeichen der Frage, ob es den etablierten Parteien der Mitte gelingen wird, ihre traditionelle Mehrheit zu verteidigen oder ob es auch im europäischen Parlament einen Rechtsruck und damit verbunden eine fundamentale Verschiebung der Kräfteverhältnisse geben wird. Eine solche Entwicklung hätte zur Folge, dass das bisher immer integrationsfreundliche Parlament seine Rolle als Motor der Integration einbüßen könnte.
Zurzeit sind im Europäischen Parlament die dem rechten Spektrum zuzuordnenden Parteien überwiegend in zwei Fraktionen organisiert: der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR) und der Fraktion Identität und Demokratie (ID). Die EKR besteht aus 66 Abgeordneten von 20 Parteien aus 16 Mitgliedstaaten. Mit 24 Abgeordneten ist die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) dabei der zentrale Akteur. Die zweitgrößte Gruppe in der EKR bilden die neun Abgeordneten der italienischen Fratelli d’Italia. In der ID sind 62 Abgeordnete aus acht Mitgliedstaaten organisiert. Die stärkste Gruppierung bilden die 25 Abgeordneten der italienischen Lega, an zweiter Stelle folgen die 18 Abgeordneten des französischen Rassemblement National (RN), an dritter Stelle die jeweils neun Abgeordneten der Alternative für Deutschland (AfD) und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ). Die zwölf Abgeordneten der ungarischen Fidesz sind nach ihrem Austritt aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) keiner der beiden Fraktionen beigetreten, allerdings stärken sie auch als fraktionslose Abgeordnete das rechte Lager. Insgesamt umfasst das rechte Lager im Europäischen Parlament zurzeit 139 von 705 Abgeordneten, was knapp einem Fünftel der Sitze entspricht.
Aktuelle Prognosen gehen davon aus, dass das rechte Lager aus den kommenden Europawahlen gestärkt hervorgehen wird. Die zurzeit in EKR und ID organisierten Parteien werden voraussichtlich jeweils zwischen 80 und 90 Mandate erringen. Das rechte Lager würde damit insgesamt auf etwa 180 Sitze kommen. Dies würde einem Anstieg von knapp einem Fünftel auf ein Viertel der Mandate des Europäischen Parlaments entsprechen. Für den künftigen Einfluss dieses Lagers wird es von großer Bedeutung sein, ob es den rechten Parteien gelingen wird, eine einheitliche Fraktion zu bilden. Insbesondere der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat in der Vergangenheit mehrfach erfolglose Anläufe in diese Richtung unternommen. Allerdings ist es alles andere als sicher, dass eine solche einheitliche Fraktion zustande kommen wird, sind doch die Positionen der Parteien in zahlreichen zentralen Fragen unvereinbar. In der Haltung zu Russland und dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine verfolgen Fidesz, AfD, RN und FPÖ eine russlandfreundliche Politik, während PiS zu den härtesten Gegnern Putins zählt. Auch in der Migrationspolitik gibt es keinen Konsens. Während die Parteien aus den südlichen Mitgliedstaaten eine Verteilung von Flüchtlingen auf die anderen Mitgliedstaaten befürworten, wird dies von anderen Parteien wie z.B. Fidesz, PiS und AfD kategorisch abgelehnt. In diesem Zusammenhang muss noch darauf hingewiesen werden, dass sich die Parteien auch im Ausmaß ihrer Radikalität unterscheiden. So vertreten tendenziell die Parteien der ID radikalere - zum Extremismus neigende - Positionen als die der EKR.
Zu erwarten ist, dass die EVP sowie die Sozialisten und Demokraten (S&D) bei den Wahlen im Juni ihren Mandatsanteil ungefähr halten können, demgegenüber werden für die Grünen und die Liberalen (Renew) deutliche Verluste prognostiziert. Danach würden die drei Fraktionen von EVP, S&D und Renew auf ungefähr 390 bis 400 Mandate kommen, zählt man die Grünen hinzu, hätte die Koalition der Parteien der Mitte im neuen Parlament etwa 440 bis 459 Mandate. Sollten sich die aktuellen Prognosen bewahrheiten, würde das rechte Lager zwar deutlich zulegen können, aber die etablierten Parteien der Mitte würden dennoch auch in der nächsten Legislaturperiode über eine klare Mehrheit verfügen. Damit bliebe die Gestaltungsmacht der rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräfte weiterhin begrenzt.
Allerdings wird für die tatsächliche Gestaltungsmacht der rechten Parteien nicht nur ihr Ergebnis bei den Wahlen entscheidend sein, sondern vor allem auch das Verhalten der anderen Parteien und dabei insbesondere das der Mitte-Rechts-Parteien. Sollten die konservativen Parteien in der EVP ihr Verhältnis zu den Parteien des rechten Lagers neu gestalten, könnten sich dadurch für diese ganz neue Optionen ergeben. In diesem Zusammenhang sind etwa Initiativen des Fraktionsvorsitzenden der EVP, Manfred Weber, Verbindungen zur Vorsitzenden der Fratelli d’Italia, Giorgia Meloni, aufzubauen und die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auszuloten, von Bedeutung. Ein Rückblick in die 1930er Jahre zeigt, dass bei einer solchen Annäherung die Gefahr besteht, dass die bisher verantwortlich agierenden konservativen Parteien der EVP graduell ihre Funktion als Gatekeeper gegenüber den rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften einbüßen könnten und deren Machtoptionen dadurch entscheidend stärken könnten. Dies würde nicht nur den bis dahin geltenden europafreundlichen Konsens im Europäischen Parlament unterminieren, sondern auch zur Normalisierung extremer Positionen beitragen.
In dieser Konstellation wird klar ersichtlich, dass es bei den Europawahlen von 2024 um eine entscheidende Weichenstellung für die zukünftige Entwicklung Europas gehen wird. Dies gilt umso mehr, als im Jahr 2024 nicht nur im Juni die Wahlen des Europäischen Parlaments stattfinden werden, sondern am 5. November auch Präsidenten- und Kongresswahlen in den USA. Diese Wahlen werden nicht nur innenpolitische Bedeutung haben, sondern auch Auswirkungen auf die internationale Ordnung. Für den Fall Donald Trump erneut zum amerikanischen Präsidenten gewählt wird, und gleichzeitig durch den Erfolg der rechten und rechtsextremen Parteien die Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament erschwert wird, könnte sich daraus für Europa ein Worst Case Szenario ergeben, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Wladimir Putin aus den russischen Präsidentschaftswahlen Mitte März 2024 gestärkt hervorgegangen ist. Denn wenn Trump in dieser Konstellation die USA aus der NATO zurückziehen und gleichzeitig auf Kosten von ukrainischen und europäischen Interessen die Unterstützung der Ukraine beenden würde, hätte eine Europäische Union, die durch interne Spaltungen geschwächt und entscheidungsunfähig wäre, dem wenig entgegen zu setzen.
Ellen BOS und Zoltán Tibor PÁLLINGER
Quellen: