Anlässlich der Veröffentlichung des von Judith Szapor, Andrea Pető, Maura Hametz und Marina Calloni herausgegebenen Sammelbandes „Jewish Intellectual Women in Central Europe 1860-2000: Twelve Biographical Essays“ (Mellen Press 2012) fand am 18. März 2013 im Andrássy-Saal der Andrássy Universität Budapest (AUB) eine Buchpräsentation mit anschließender Podiumsdiskussion statt.
Die von Andrea Pető, Department for Gender Studies an der Central European University (CEU) und Ursula Mindler, Fakultät für Mitteleuropäische Studien (MES) an der AUB mit Unterstützung von Orsolya Nemeshazi, Österreichisches Kulturforum Budapest (ÖKF) organisierte Veranstaltung stellt den Auftakt zu einer in Planung befindlichen Reihe von Kooperationsveranstaltungen zwischen der AUB und der CEU dar.
Die Eröffnungsworte sprachen Rektor Masát (AUB), Vizerektor Kontler (CEU) und Direktorin Bachfischer (ÖKF).
Der Sammelband beinhaltet wissenschaftliche Essays zu jüdischen weiblichen Intellektuellen Zentraleuropas und zeigt die komplexen Biographien und Identitäten von Frauen von 1860 bis zum 20. Jahrhundert. Das Themenspektrum reicht von Frauen in der Musik bis hin zu Pionierinnen des Zionismus‘. Diese Frauen veränderten die europäische Kultur und Politik, doch trotz ihrer bedeutsamen Mitwirkung in vielen intellektuellen und künstlerischen Bereichen sind die meisten von ihnen bislang weitgehend unbekannt geblieben. Ihre Biographien zeigen eine Bandbreite an Identitäten, Zugehörigkeiten und Loyalitäten; ihr Jüdischsein wurde öfter mit Kultur oder Gemeinschaft identifiziert als mit Riten oder Religion. Die NS-Herrschaft zwang viele von ihnen ins Exil; ihre Odysseen werfen ein Licht auf die Erfahrungen der Ausgegrenzten und Exilierten. Der Sammelband leistet einen wertvollen Beitrag zur Frauengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, zu europäischer Intellektuellengeschichte sowie zu Jüdischen und Diaspora Studien. Der Band wurde von Helga Embacher (Universität Salzburg) präsentiert, wobei sie in ihrem Vortrag einige Aspekte herausgriff, anhand derer sie weiterführende theoretische und methodische Fragen aufwarf.
Die anschließende, von Andrea Pető (CEU) geleitete Podiumsdiskussion kreiste um vier zentrale theoretische, methodische und praktische Fragestellungen, zu denen fünf Wissenschaftlerinnen Stellung nahmen. Neben Helga Embacher waren dies Marina Colloni (Universität Milano-Bicocca), Eleonore Lappin und Michaela Raggam-Blesch (beide Akademie der Wissenschaften, Wien) und Ursula Mindler (AUB/MES). Die erste Frage galt den Konsequenzen der Intersektionalität, also des Konzeptes, in dem man Kategorien der Differenz nicht nur am Geschlecht allein, sondern an Gender, Alter, sozialer Klasse, Nation, „Rasse“, Religion etc. festmacht, wobei sich diese Flächen überschneiden. Dies wird besonders in den vorgestellten Biographien / Autobiographien sichtbar, und es wurde auch mehrmals betont, dass die Frage nach identitären Verortungen nicht immer leicht zu beantworten sei – oft liegen keine Eigendefinitionen oder ambivalente Zuschreibungen vor; manche Personen wie beispielsweise Käthe Leichter sahen sich selbst nicht als Jüdin, wurden aber als „jüdisch“ in der NS-Zeit verfolgt etc. Darüber hinaus wurde auch die Rolle der ForscherInnen in diesem Prozess angesprochen: ob die Differenz deshalb sichtbar wird, weil es der Fokus der Forschung ist oder ob es eine zentrale, scheinbar universelle Kategorie der Unterscheidung darstellt. Die zweite Frage richtete sich nach dem Zugang und der Herstellung von Quellen; hier galt es auch zu hinterfragen, welche Möglichkeiten, aber auch Grenzen Oral History als Methode und Quelle bietet. Alle fünf Wissenschaftlerinnen äußerten ihre Überzeugung, dass trotz ihrer Grenzen Oral History für Jewish und Gender Studies ausgesprochen wichtig ist, man aber bedenken müsse, das sie letztlich mehr Aufschluss über die Frage von Erinnerung und Selbstverortung gibt als über tatsächliche historische Ereignisse.
Die dritte Frage fokussierte auf institutionelle Aspekte – „community outreach“, die Beziehung zwischen Wissenschaft und Aktivismus. HistorikerInnen und AktivistInnen verfolgen zwar oft ähnliche Ziele, arbeiten aber mit unterschiedlichen Mitteln, um diese zu erreichen. Man könne nicht sagen, dass das eine wichtiger wie das andere wäre, doch müssen einem diese Unterschiede bewusst sein. Die Zusammenarbeit mit konfessionellen Einrichtungen gestaltet sich für WissenschaftlerInnen aufgrund der unterschiedlichen Zugänge und Politiken nicht immer leicht; letztlich darf man auch nicht vergessen, dass sich in der Praxis die Jüdischen Studien eigentlich hauptsächlich an ein nichtjüdisches Publikum richten, was wiederum Auswirkungen auf Forschung und Lehre hat. Die Abschlussfrage war persönlich gehalten und gab zu bedenken, ob die Beschäftigung mit Gender bzw. Jewish Studies einer akademischen Karriere hinderlich oder förderlich ist und welches Transformationspotential dieser Art von Forschung innewohnt. Alle Wissenschaftlerinnen verwiesen auf die persönlich wie wissenschaftlich bereichernden Aspekte ihrer interdisziplinären Forschungen, und dass interdisziplinäre Fächer wie Gender und Jewish Studies langfristig gesehen nicht nur einen immanenten Einfluss auf unsere Sprache (wie es im Deutschen beispielsweise bereits geschehen ist durch die geschlechtsneutralen Formulierungen), unser Verhalten und Denken, sondern auch auf unser Verständnis von Geschichte und Gesellschaft haben wird.
Das ÖKF Budapest, das die Veranstaltung mitfinanzierte, lud im Anschluss noch zu Wein und Pogatschen, sodass die Diskussionen im gemütlichen Rahmen fortgesetzt werden konnten.