Prof. Dr. Martin Borowski, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie an der Universität Heidelberg, leitete an der AUB vom 28. bis 30. April ein interuniversitäres Blockseminar über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: Robert Alexys Theorie der Grund- und Menschenrechte. Im Vorfeld dazu erörterte er in einem öffentlichen Abendvortrag das Problem begrenzter Grundrechtskontrolle mit Fokus auf das deutsche Rechtssystem.
Prof. Dr. Michael Anderheiden, Inhaber des Lehrstuhls für Europäisches Öffentliches Recht und seine Grundlagen an der AUB, eröffnete den Vortrag und zeigte seine Freude darüber, dass die beiden Universitäten ein neues, umfassendes Rahmenabkommen schließen konnten, in das nun auch das Angebot von Lehrveranstaltungen der Juristischen Fakultät Heidelberg an der AUB fällt. Nach der Pilotveranstaltung mit Frau Prof. Ute Mager im Februar 2020, also unmittelbar vor der Pandemie und noch vor Abschluss des Vertrages, bildete dazu nun Prof. Martin Borowski mit seinem Besuch den Auftakt.
Die Thematik gehört zu den Grundlagenfragen der Grundrechtstheorie, mit denen sich der Referent seit fast 30 Jahren befasst. In der deutschen Grundrechtsdogmatik habe sich in den letzten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunehmend ein Modell durchgesetzt, das von einem weiten Grundrechtstatbestand ausgehe, so Borowski. In der Lehre bedeute dies einen stärkeren Fokus auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung, bei der der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit dem Erfordernis der Abwägung die zentralen materiellen Kriterien bilde. Die zunehmende Klarheit über die Strukturen der Rechtfertigung habe tendenziell oder jedenfalls potenziell zu einer strikteren Grundrechtsbindung geführt.
Je klarer und sicherer die Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt aber rekonstruiert werde, desto wichtiger werde es, die legitimen Spielräume für die grundrechtsgebundene Staatsgewalt ebenso zu rekonstruieren, erklärte Borowski weiter. Entsprechend würden seit etwa zwei Jahrzehnten zunehmend die verschiedenen Formen von Spielräumen - strukturelle Spielräume und Erkenntnisspielräume mit ihren jeweiligen Unterformen - unterschieden und diskutiert. Dabei handelt es sich um ein theoretisch anspruchsvolles und praktisch bedeutsames Problem, wie im Verlauf des Vortrags deutlich wurde.
Borowski betonte, Fälle begrenzter Grundrechtskontrolle seien kein Ausnahmephänomen; vielmehr seien theoretische Diskussionen um Spielräume in der Anwendung von Grundrechten wesentlich für die Lösung des demokratischen Problems verfassungsgerichtlicher Kontrolle von Gesetzgebung. Die deutsche Gerichtsbarkeit in all ihren Zweigen und Instanzen ist bei der Anwendung einfachen Rechts auf konkrete Fälle immer an Verfassungs- und Grundrechte gebunden. Dabei wird eine letzte Instanz festgelegt, die final urteilt. Darüber hinaus gibt es in Deutschland aber die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde einzureichen. Diese tatsächlich letztinstanzliche Entscheidung bewertet allerdings nur die Verfassungsmäßigkeit eines Urteils, nicht dessen Inhalt, wie der Referent erklärte. Nach Deutung des berühmten Elfes-Urteils von 1957 ist laut Borowski aber so gut wie jedes belastende rechtswidrige fachgerichtliche Urteil auch verfassungswidrig.
Eine solche Rechtmäßigkeitsprüfung in jedem vorgebrachten Fall würde aber die Kapazitäten wie auch den normativen Aufgabenbereich des Bundesverfassungsgerichts sprengen, denn so wichtig diese Kontrolle für demokratische Legitimation sei, so müsse sie doch handhabbar bleiben. In der Praxis erweise sich die begrenzte Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht als wenig klar und kohärent. Zwei Tendenzen aber erkennt der Experte: Zum einen sei eine Varianz der Kontrollintensität festzustellen, zum anderen bedinge die Intensität des Eingriffs in das betreffende Grundrecht direkt die Intensität der Kontrolle.
Um begrenzte Grundrechtskontrolle zu rekonstruieren, müssten die zu kontrollierende Entscheidung und die Kontrollentscheidung unterschieden werden. Bei Letzterer gebe es verschiedene Spielräume, die der Dozent in Erkenntnis- und strukturelle Spielräume gliederte. Letztere, so betonte er, beträfen die gesetzgebende und nicht die kontrollierende Instanz: „Strukturelle Spielräume bewirken eine Begrenzung des Maßstabes für die Kontrolle, nicht die Begrenzung der Kontrolle anhand eines existierenden Maßstabs.“
Also handelt es sich beim diskutierten Phänomen um eine Rechtsfrage danach, in welchem Umfang eine Kontrollinstanz zur Kontrolle ermächtigt ist und wie weit entsprechend die Immunität der inhaltlichen Entscheidung eines zu kontrollierenden Sachverhalts gewährleistet ist. Denn je nach Intensität der Kontrolle kann die Beurteilung einer gerichtlichen Entscheidung sehr unterschiedlich ausfallen, und anders als bei der strikten wird bei der begrenzten Kontrolle ein Erkenntnisspielraum eingeräumt, der den möglichen Urteilen „richtig“ und „falsch“ noch ein drittes hinzufügt: „nicht evident falsch“. So wird die zu kontrollierende Entscheidung nicht widerrufen, auch wenn die Kontrollinstanz in diesem Fall anders entschieden hätte.
Für dieses Vorgehen gibt es unterschiedliche Begründungen. Einerseits nannte Borowski das Demokratieprinzip, nachdem bei nicht auszuräumender (empirischer oder normativer) Unsicherheit die Entscheidung beim demokratisch legitimierten Gesetzgeber liegt und nicht einfach vom (demokratisch nicht unmittelbar legitimierten) Verfassungsgericht aufgehoben werden kann. Und auch das bereits angesprochene Arbeitslastargument greift hier, das bedeutet eine normative Entscheidung praktischer Arbeitsteilung zwischen Gerichtsbarkeiten und somit ein Fokus des Verfassungsgerichts auf zentrale Fälle.
Das Ergebnis ist laut dem Referenten ein „Abwägungsjoker“ für EntscheidungsträgerInnen gegenüber den Kontrollorganen. Letztere legen den Spielraum fest, in dem der Gesetzgeber maximal abweichen kann: „Die maximale erlaubte Abweichung in beide Richtungen beschreibt den definitiven Erkenntnisspielraum“. Darin liegt laut Borowski das formelle Prinzip in der Abwägung der Kontrollentscheidung bei begrenzter Kontrolle. Diese Einordnung hebt das Problem begrenzter Grundrechtskontrolle natürlich nicht auf, bietet aber einen neuen Erkenntniszugang. So leitet sich die Größe des Spielraums, der der zu kontrollierenden Instanz eingeräumt wird, von der Intensität des Eingriffs in ein Grundrecht ab. Zugleich tritt das Demokratieprinzip als abstraktes Gewicht in der Kontrollentscheidung auf. So plädierte der Dozent abschließend dafür, die deliberative Qualität der getroffenen Entscheidung bei deren Kontrolle zu berücksichtigen. Denn Gesetzgebungsprozesse würden von einer Vielzahl von Akteuren und Faktoren beeinflusst, was ihre demokratische Qualität positiv wie negativ beeinflussen könne.
Wie der Vortrag gezeigt hat, bietet dieses komplexe Thema noch viele spannende Fragestellungen und zu erforschende Untiefen – durch seine Ausführungen hat Prof. Borowski bereits zentrale Aspekte zur Untersuchung hervorgehoben. In der abschließenden Diskussion mit Studierenden und externen Gästen kam vor allem die demokratische Legitimation der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Sprache. Laut Borowski besteht das genannte Demokratieproblem gerade auch für Richterinnen und Richter, die in seinen Augen Kontrollentscheidungen nachvollziehbar begründen müssen, da keine höhere Instanz existiert, die diese Kontrollentscheidung wiederum kontrolliert. Auch plädierte er dafür, den Zweck der jeweiligen Grundrechte in der theoretischen Diskussion nicht aus den Augen zu verlieren.
Frauke M. SEEBASS