Am Montagabend, den 1. Oktober 2012, gab Botschafter a.D. Prof. Charles Courtney im Spiegelsaal der Andrássy Universität Budapest (AUB) einen detaillierten Blick auf die politische Lage in den USA, den Wahlkampf der Präsidentschafts- und Kongresswahlen und den möglichen Ausgang der Präsidentschaftswahlen. Als Regierungsmitarbeiter und Diplomat unter vier amerikanischen Präsidenten (Nixon, Carter, Reagan und Bush senior) kann Courtney auf eine langjährige politische Erfahrung zurückgreifen.
In seinem Vortrag betonte Courtney, dass die Wahlen am 6. November die wichtigsten seit langer Zeit seien, vielleicht sogar die wichtigsten seit der Wahl Abraham Lincolns 1860. Denn heute ist die amerikanische Gesellschaft ähnlich polarisiert über die Frage, wie das Land sich weiterentwickeln soll, wie kurz vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Doch da die Präsidentschaftswahl fast schon entschieden ist (sofern nichts Unvorhergesehenes geschieht), wird sie am 6. November eher zu einer Nebensache: Die am gleichen Tag stattfindende Neuwahl des House of Representatives und eines Drittels der Sitze im Senat ist die eigentlich wichtigere Wahl, weil sie über die politischen Spielräume des nächsten Präsidenten entscheidet.
Gegenkandidat Mitt Romney hat aus Courtneys Sicht aus dreierlei Gründen keine großen Chancen: Erstens gibt sich Romney im Wahlkampf insbesondere durch die Wahl seines „running mate“ zu extrem, zu weit „rechts“ – und um die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, müssen alle Amerikaner angesprochen werden. Zweitens ist Romney in vielen Dingen zu vage und es ist relativ unklar, welche konkrete Politik er nach der Wahl umsetzen möchte. Drittens hat Romney mit seinem in mancherlei Hinsicht ungeschickten Verhalten viele potentielle Wähler verprellt. Als Beispiel hierfür nannte Courtney die kürzlich bekannt gewordene Aussage Romneys, dass 47 Prozent der Amerikaner von staatlicher Hilfe lebten und sich als „Opfer“ mit Anrecht auf staatliche Zuwendungen sähen – diese Menschen, so Romney, seien als potentielle Wähler für ihn irrelevant. Doch zu diesen 47 Prozent zählen unter anderem Rentner, von denen durchaus ein Teil zu den potentiellen Wählern der Republikaner zählt.
Eine Siegeschance für Romney sieht Courtney für den Fall, dass bis zum 6. November ein extremes Ereignis geschieht, wie beispielsweise ein Angriff Israels auf den Iran. Dann würde Obama bei der Präsidentschaftswahl wahrscheinlich für das Versagen seiner Nahostpolitik abgestraft, die auf eine friedliche Lösung der dortigen Konfliktsituation abzielt. Sollte Romney wider Erwarten gewinnen, könnte dies laut Courtney für Europa sogar positive Effekte haben. Denn Romney hat einerseits zugesichert, den Dollarkurs stärken zu wollen, andererseits will er den Verteidigungshaushalt erhöhen. Ersteres würde Europa wirtschaftlich helfen (und den USA eigentlich schaden), letzteres wäre für Europa in sicherheitspolitischer Hinsicht positiv. Ein Sieg Obamas wäre für Europa jedoch besser, weil Obama, im Gegensatz zu Romney, eher multilateral handeln wird – vor allem wenn die Demokraten die Kongresswahl für sich entscheiden können.
Aus Courtneys Sicht ist der Ausgang der Kongresswahl bedeutsamer als das (absehbare) Ergebnis der Präsidentschaftswahl, weil die fehlende Mehrheit im Repräsentantenhaus dafür verantwortlich ist, dass Obama in seiner ersten Amtszeit, gemessen an dem, was er erreichen wollte, kaum etwas durchsetzen konnte. Selbst so simpel anmutende Pläne wie die Schließung Guantanamos konnten nicht realisiert werden und bei der Gesundheitsreform musste Obama starke Zugeständnisse machen. Courtney zufolge waren diese nötig, weil nach Obamas Wahlsieg 2008 die Republikaner sich zu einer totalen Blockadehaltung im Kongress entschlossen. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass ihre Politik mittlerweile stark von den extremen Positionen der „Tea Party“ bestimmt wird. Die Blockadehaltung der Republikaner kann laut Courtney nur überwunden werden, wenn die Demokraten ihre Mehrheit im Senat nicht verlieren und die Mehrheit im Repräsentantenhaus gewinnen.
Text: Tim Kraski