Die Ukraine erfreute sich 2012 großer medialer Aufmerksamkeit und stand in diesem Jahr gleich mehrfach im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Grund hierfür war jedoch nicht allein die gemeinsam mit Co-Gastgeber Polen ausgerichtete Fußball-EM, die so viele Zuschauer in die drittgrößte Ex-Sowjetrepublik lockte, dass einige Studenten an den Austragungsorten kurzerhand aus ihren Wohnheimen „ausgesiedelt“ werden mussten – auch die politischen Geschehnisse rund um das farbenprächtige Sportereignis sorgten dafür, dass es in den Redaktionen der internationalen Presse nicht ruhig wurde um das Thema Ukraine.
Im Mittelpunkt der Kritik stand die Behandlung der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko sowie das schon Monate zuvor zugunsten der propräsidentiellen Kräfte im Parlament abermals geänderte Wahlgesetz. Auch die Wahl selbst, welche am 28. Oktober 2012 durchgeführt wurde, stand von vornherein in der Kritik, da mit einem fairen Ablauf laut unabhängigen Wahlbeobachtern nicht zu rechnen sei. Dennoch gab es neben weniger Überraschendem auch einige Ergebnisse, die im Vorfeld der Wahl nicht abzusehen gewesen waren.
Aus diesem Anlass lud die Fakultät für Internationale Beziehungen (IB) am 5. November in den Spiegelsaal der Andrássy Universität Budapest (AUB) ein, um mit Frau Prof. Dr. Ellen Bos eine ausgewiesene Ukraine-Expertin zu Wort kommen zu lassen. Ziel war es, dem Publikum einen Überblick über die Struktur des politischen Systems der Ukraine zu geben, vor diesem Hintergrund die jüngsten Wahlen mit ihren Ergebnissen zu beleuchten und die sich daraus für die zukünftige politische Entwicklung des Landes ableitenden Konsequenzen zu skizzieren.
Gleich zu Beginn ihrer Ausführungen betonte die Rednerin den Widerspruch, der sich aus dem Namen der Ukraine und ihrer tatsächlichen Bedeutung ergibt: Obwohl übersetzt „Grenzland“ bedeutend, sei die Ukraine mit ihren Grenzen zu Mitgliedsstaaten der EU, anderen Ländern der Östlichen Partnerschaft sowie zu Russland zentraler Bestandteil des postsozialistischen Ost-, Mittel- und Südosteuropas. Allerdings hinke das Land in Hinblick auf seine politische Kultur und angesichts eines Systems des „kompetitiven Autoritarismus“ nach wie vor der Entwicklung anderer postsozialistischer Staaten hinterher – ein Charakteristikum, das auch im Zuge der „Orangenen Revolution“ Ende 2004 aufgrund des fehlenden Elitenaustauschs nicht beseitigt werden konnte.
Stattdessen sei das System des lange Zeit tonangebenden ukrainischen Politikers Leonid Kutschma am Leben erhalten worden, was nicht zuletzt die thematische Inhaltsleere der ukrainischen Parteien zeige, deren entscheidende Konfliktlinie nicht entlang sozioökonomischer Interessen oder der Haltung zu wirtschaftlichen Reformen verlaufe, sondern entlang ihrer Haltung gegenüber dem jeweils amtierenden Präsidenten.
In Hinblick auf die Wahl vom 28. Oktober 2012 wurde zunächst die erwähnte (mittlerweile vierte) Änderung des Wahlgesetzes sowie der Popularitätsverlust Präsident Janukowitschs in Prognosen vor der Wahl thematisiert, um anschließend die Wahlergebnisse zu beleuchten. Wahlsieger sei zwar mit einiger Sicherheit die Partei der Regionen von Präsident Janukowitsch, die v. a. angesichts erfolgreicher Direktwahlergebnisse ihre Koalition mit den Kommunisten aufrechterhalten können wird. Angesichts hoher Zustimmungswerte für die Opposition und das Auftreten zweier Newcomer im politischen Geschäft dürften die Mehrheitsverhältnisse für die Partei der Regionen und ihren kommunistischen Bündnispartner aber nicht besonders komfortabel sein. Neben Timoschenkos Partei Vaterland, die mit ca. 25 % zweitstärkste Kraft bei den Listenstimmen wurde, gelang auch der überraschend starken Rechtspartei Swoboda der Einzug ins Parlament. Ein weiterer Neuling ist die Partei UDAR der ebenfalls oppositionell und pro-westlich gesinnten Boxlegende Vitali Klitschko, die es sozusagen „mit einem Schlag“ ins Parlament schaffte.
In ihrer Prognose für die zukünftige Entwicklung ließ Bos nur bedingt Raum für Optimismus: Die amtierende politische Elite, die nicht vorhandene Trennung von Politik und Wirtschaft, die Spaltung des Landes in einen pro-europäisch orientierten Westen und einen russlandfreundlichen Osten – diese Hauptstrukturelemente der Ukraine werde man in den nächsten Jahren wohl nicht überwinden können. Dennoch habe gerade der letzte Punkt auch seinen Vorteil: „Die Spaltung des Landes verhindert einerseits zwar die Herausbildung eines tragfähigen Konsens‘ – andererseits sorgt sie aber für Pluralismus und verhindert den Rückfall in einen völligen Autoritarismus.“
Auf die künftige Entwicklung im wichtigsten Land zwischen Russland und der EU darf man weiterhin gespannt sein.
Christoph Strauch