Die Vortragende thematisierte in ihrem Vortrag und in der anschließenden Diskussion die Fortschritte, die in der Region seit der EU-Erweiterung vor 20 Jahren, ihrer Meinung nach, zu verzeichnen sind. Trotz positiver Entwicklungen zeigt sich, dass die EU von der 2004-Erweiterung lernen muss, immerhin steigt der EU-Skeptizismus in der Bevölkerung.
In Österreich ist Ulrike Lunacek durchaus einer breiten Öffentlichkeit bekannt, immerhin war sie langjährige Abgeordnete für die Grünen im österreichischen Nationalrat (1999-2009) und im Europaparlament (2009-2017). Während ihrer Zeit im Europaparlament hatte sie die Funktion der Berichterstatterin für die Republik Kosovo inne und war von 2014 bis 2017 Vizepräsidentin des Europaparlaments. 2020 bekleidete sie in der ÖVP-Grünen-Regierung das Amt der Staatssekretärin für Kunst und Kultur. Heute lebt sie als Autorin, Moderatorin und Referentin in Wien. Bevor sie 1995 in die österreichische Partei- und Parlamentspolitik eintrat, war die gelernte Dolmetscherin (EN/SP/DE) - und ist es auch heute noch - als Aktivistin und Mitarbeiterin von feministischen, entwicklungspolitischen und LGBTI-NGOs tätig.
Im Eingangsvortrag gab Lunacek einen persönlichen Rückblick auf ihre Erfahrungen im europäischen Parlament und erklärte, warum die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene Sinn macht und welche Probleme diese auch mit sich bringt. Im Rahmen des Vortrags versuchte sie, die Fortschritte und Herausforderungen, die sich in den letzten 20 Jahren in der EU gezeigt haben, zu thematisieren. Die Zielvorstellungen der MoE-Länder an die EU-Erweiterung waren zu Beginn hoch und da sich nicht alle Erwartungen erfüllten, hat sich die anfängliche EU-Euphorie nach 20 Jahren zu einer EU-Skepsis entwickelt. Die Vortragende hält auch klar fest, dass die damaligen Regierungen alle den europäischen Werten und dem Grundpfeiler der Demokratie zugestimmt hatten, somit gaben diese Regierungen ein Bekenntnis zur Einhaltung dieser Werte ab.
Der Grundgedanke der 2004-Erweiterung war die Überwindung der wirtschaftlichen und politischen Spaltungen in Europa. Europa sollte sich zusammenfinden. In diesem Punkt wurden Erfolge erzielt, stellt Lunacek fest. Sie hob vor allem die graduell verbesserten Grundfreiheiten (Dienstleistung, Kapital, Personen und Warenverkehr) hervor, die den damals neuen EU-Mitgliedsstaaten wirtschaftliche und politische Verbesserungen in Aussicht stellten und peu á peu zu einem stärkeren Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den „alten“ westlichen und den „neuen“ östlichen Mitgliedstaaten führen sollte. Die Reisefreiheit konnte durch die Erweiterung der Schengen-Zone erreicht werden, obwohl diese ab 2015 sogleich eingeschränkt wurde. Das ERASMUS-Programm, eines der wichtigsten und erfolgreichsten EU-Programme, hat einen wesentlichen Beitrag geleistet, um die einst durch den Eisernen Vorhang getrennten Länder näherzubringen.
Verbesserungspotenzial sah Lunacek vor allem in der Konsensfindung und Implementierung einer EU-weiten Umwelt-, Klima- und Sozialpolitik, bei der Kritikfähigkeit von politischen Entscheidungsträgern und bei den EU-Mitgliedstaaten, im Bereich der Antidiskriminierungsgesetzgebung sowie in der Förderung alternativer Medien. Den Minderheitenschutz bezeichnet Lunacek als eine europäische Angelegenheit. Gerade in Punkto Klimaschutz ist die EU ihrer Vorreiterrolle nicht vollumfänglich gerecht geworden, so die ehemalige Europa-Abgeordnete und EP-Vizepräsidentin. Die Union habe zwar in Bereichen wie der Umsetzung von Renaturierungsgesetzen Fortschritte erzielt, es aber verpasst substanzielle Veränderungen bspw. in Bezug auf die Verringerung des Einsatzes von Pestiziden herbeizuführen.
Probleme ergeben sich derzeit im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, weshalb Zahlungen an die EU-Mitgliedstaaten zurückgehalten werden, um diese an die Einhaltung der europäischen Grundprinzipien zu erinnern. Kritisch zu betrachten ist, wenn bestimmte Geldzuweisungen trotzdem erfolgen, um Zustimmung bei anderen Themen zu erhalten. Das Beispiel Ungarns zeigt, dass Neigungen zur Autokratisierung dazu führen, dass die Demokratie substanziell unterwandert und bewusst eine Polarisierung der Gesellschaft gefördert wird. Erweiterte Sanktionsmechanismen in Bezug auf Vertragsverletzungsverfahren hob Frau Lunacek als Eckpfeiler einer verbesserten Durchsetzungsfähigkeit europäischer Grundprinzipien gemäß den Acquis Communautaire hervor.
Der Lissabon Vertrag von 2009 brachte Reformen und Neuerungen wie die Schaffungen des Amtes des Präsidenten des Europäischen Rates, um die Kontinuität und Effizienz der Arbeit des Europäischen Rates zu verbessern sowie die Einrichtung des Auswärtigen Dienstes der EU und der EU-Delegationen im Ausland. Auch die Einführung des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, um die Kohärenz und Sichtbarkeit der EU-Außenpolitik zu stärken, wurde positiv bewertet. Die Erweiterung des Mitentscheidungsverfahrens des Europäischen Parlaments in verschiedenen Politikbereichen trug dazu bei, die demokratische Legitimität der EU zu erhöhen. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als rechtsverbindliches Dokument hat die Grundlagen der EU erhöht.
Zu den Schwächen zählten die unklaren Austrittsmöglichkeiten und Verfahren für EU-Staaten, das Fehlen eines Ausschlussverfahrens sowie das Einstimmigkeitsprinzip im EU-Rat. Das Beibehalten des Einstimmigkeitsprinzips in einigen Bereichen des EU-Rates kann zu Blockaden und langsamen Entscheidungsprozessen führen, insbesondere in Zeiten, in denen Einigkeit erforderlich ist, so Ulrike Lunacek.
Die Schwächen und Nachteile des Vertrages von Lissabon sind Gegenstand aktueller Diskussionen und Debatten innerhalb der EU. Sie zeigen, dass trotz der Reformen weiterhin Herausforderungen bestehen, auf die zu Zeiten geopolitischer und innereuropäischer Spannungen adäquat reagiert werden muss.
Im Anschluss an den Vortrag stellte sich Frau Ulrike Lunacek den zahlreichen, mitunter sehr kritischen EU-Fragen zur Verfügung und diskutierte diese ausführlich mit den Teilnehmenden.
Patrick René HAASLER und Dr. Christina GRIESSLER