Der Rektor der AUB, Prof. Dr. Zoltán Tibor Pállinger, bemerkte in seiner Begrüßungsrede, dass die Gestaltung der Diplomatie in Belgien schon aufgrund des politischen Systems des Landes eine wahre Kunst sei. Ein passendes Thema also für die Ringvorlesungsreihe "Kunst der Diplomatie", die die Andrássy Universität anlässlich ihres 20-jährigen Jubiläums ausrichtet.
Zu Beginn seines Vortrags sprach der belgische Botschafter über das 100-jährige Jubiläum der belgisch-ungarischen Beziehungen und historische Meilensteine. Einer davon war der 20. Februar 1922, als der ungarische Botschafter, Graf Olivér Woracziczky, dem belgischen Außenminister Henri Jaspar sein Beglaubigungsschreiben überreichte. Dies markierte den Höhepunkt eines Prozesses, der bereits 1921 begonnen hatte, als Belgien eine Gesandtschaft in Budapest eröffnete, so Peinen. Zu dieser Zeit hätten sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern stark verbessert, insbesondere in den Bereichen Landwirtschaft und Rohstofflieferung, erzählte er weiter.
Ein wichtiges Element der gemeinsamen Geschichte seien die sogenannten "Kinderzüge", ein zentrales Zeichen der Solidarität Belgiens mit Ungarn. So seien kurz nach dem Ersten Weltkrieg 20.000 ungarische Kinder nach Belgien transportiert worden, um für einige Zeit in belgischen Familien zu leben.
Seit Anfang der 1930er-Jahre habe es Gegensätze in den bilateralen Beziehungen gegeben, erzählte Peinen weiter, die durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs noch verschärft wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten im Jahr 1947 die diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen werden, und im Jahr 1955 wurde ein belgisch-ungarisches Handels- und Finanzabkommen geschlossen.
Die belgische Führung habe sich empört gezeigt über die Reaktion der ungarischen Regierung auf den bewaffneten Aufstand von 1956, und die belgische Position gegenüber Ungarn sei in der Zeit danach sehr negativ gewesen. Nach dem ungarischen Aufstand vom Oktober 1956 habe dennoch Belgien etwa 7000 ungarischen Flüchtlingen Aufnahme und Schutz gewährt, erzählte der belgische Botschafter weiter. Dies erkläre, warum es auch heute noch eine große ungarisch-belgische Gemeinschaft in Belgien gebe. Der berühmteste unter ihnen sei der belgisch-ungarische Wirtschaftswissenschaftler Alexandre Lamfalussy, Gründer des Europäischen Währungsinstituts, des Vorläufers der Europäischen Zentralbank. Aus diesem Grund gelte er als einer der Väter des Euro.
Die belgischen Außenminister, insbesondere Paul-Henri Spaak und Pierre Harmel, leisteten von 1961 bis 1973 einen maßgeblichen Beitrag zur Förderung der Beziehungen zwischen Ost und West, indem sie der "Entspannung" und der friedlichen Koexistenz zwischen dem sozialistischen und dem kapitalistischen Block in Europa große Bedeutung beimaßen, so Peinen. Ein wichtiger Meilenstein der damaligen diplomatischen Beziehungen zwischen Belgien und Ungarn seien der Besuch des belgischen Premierministers Wilfried Martens in Budapest im Jahr 1984 und der Besuch des Generalsekretärs der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, János Kádár, in Brüssel im Jahr 1987 gewesen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hätten die Handelsbeziehungen einen wahren Wachstumsschub erhalten.
Ungarn sei eines der wenigen Länder der Welt, das Kooperationsabkommen mit den einzelnen belgischen föderalen Einheiten unterzeichnet habe: 1995 mit Flandern, 1997 mit Wallonien und 2002 mit den deutschsprachigen Gemeinschaften, bemerkte der Botschafter. 2002 und 2008 habe es außerdem zwei bedeutende Staatsbesuche gegeben: 2002 statteten König Albert II. und Königin Paola Ungarn einen Staatsbesuch ab, und 2008 wiederum reiste der ungarische Präsident Sólyom nach Belgien.
Der Beitritt Ungarns zur NATO im Jahr 1999 und zur EU im Jahr 2004 habe den bilateralen Beziehungen neuen Schwung verliehen. Heute seien rund 300 belgische Unternehmen in Ungarn tätig, und Belgien gehöre dort zu den zehn größten Investoren. Peinen berichtete, dass Belgien gemeinsam mit Ungarn und Spanien 2010 den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innegehabt habe und dass die Zusammenarbeit in diesem Trio sich auch 2023-2024 wiederholen werde, wenn Ungarn Mitte 2024 den Vorsitz von Belgien übernehmen wird.
Nach dieser Darstellung der wichtigsten Ergebnisse und Ereignisse des 100-jährigen Bestehens der diplomatischen Beziehungen zwischen Belgien und Ungarn beschrieb Peinen kurz, wie sich die innenpolitischen Veränderungen in Belgien auf die Außenpolitik auswirken. Seit der Staatsreform von 1993 sei Belgien ein föderaler Staat, in dem die Regionen Flandern, Wallonien und die Region Brüssel-Hauptstadt nicht nur berechtigt, sondern sogar verfassungsmäßig gezwungen seien, ihre Außenbeziehungen selbstständig zu gestalten.
Bei der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der föderalen Regierung und den Regionen gebe es zwei Leitprinzipien: das Prinzip "in foro interno, in foro externo" sowie die Gleichberechtigung zwischen der föderalen und der regionalen Ebene. Der Grundsatz "in foro interno, in foro externo" bedeute, dass die belgischen Föderationssubjekte oder -regionen ihre materiellen Befugnisse täglich verwalten müssen, und zwar nicht nur in Bezug auf die Innen-, sondern auch in Bezug auf die Außenpolitik. Gemäß dieses Grundsatzes werde den belgischen Regionen das Recht eingeräumt, ihre diplomatischen Vertreter zu entsenden und internationale Verträge mit Dritten abzuschließen, erklärte Peine. Das zweite Prinzip, das Belgien leitet, ist die Idee einer grundlegenden Gleichheit aller belgischen Regierungen, d. h. das Fehlen einer Normenhierarchie. In der Praxis bedeute dies, dass das von den föderalen Einheiten geschaffene innerstaatliche Recht dieselbe Kraft habe wie das föderale Recht, so Peinen weiter. Im Bereich der Außenpolitik bedeute dies, dass alle Regierungen in Belgien gemeinsam für die Festlegung der Außenpolitik der Föderation verantwortlich seien. Wenn sie keine gemeinsame Basis finden, könne Belgien in der Praxis seinen Standpunkt nicht zum Ausdruck bringen.
Ein markantes Beispiel für die Schwierigkeit, die die innenpolitische Kompetenzenteilung für die belgische Außenpolitik bedeute, sei die Verzögerung der Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und Kanada, erklärte der Botschafter. Die belgische Zentralregierung habe aufgrund der Einwände der französischsprachigen Region Wallonien ihre Zustimmung nicht erteilen können. Die Verwaltung der Region habe sich besorgt über das Wachstum kanadischer Agrarimporte gezeigt.
Damit Belgien trotz der vielen Vetospieler handlungsfähig bleibe, seien zwischen der föderalen Regierung und den Regierungen der fünf belgischen Föderationen zahlreiche beratende Gremien eingerichtet worden, um weitere Gemeinsamkeiten in außenpolitischen Fragen zu entwickeln.
Im Anschluss an den Vortrag konnten sich die Teilnehmenden bei einem kleinen Empfang, den die belgische Botschaft bereitgestellt hat, noch untereinander und mit dem Vortragenden austauschen.
Eldaniz GUSSEINOV