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Verfassunggebung in konsolidierten Demokratien: Neubeginn oder Verfall eines politischen Systems?
Donau-Institut
Konferenzbericht

Tag 1 (Montag, 15. April 2013)

Die Leiterin des Donau-Institutes, Prof. Dr. Ellen Bos, eröffnete im Beisein der Direktorin des Österreichischen Kulturforums Frau Dr. Susanne Bachfischer feierlich die wissenschaftliche Tagung. Die Konferenz teilte sich in vier Panels, in denen das Grundkonzept der Konferenz unter die Lupe genommen wurde. Laut den Konferenzvorträgen herrscht  in der Politikwissenschaft die Meinung vor, dass Verfassungsänderungen und Verfassunggebungsprozesse in etablierten Demokratien relativ seltene Phänomene sind. Die Finanzkrise von 2008 hat aber nicht nur finanzielle und ökonomische, sondern auch politische Konsequenzen, die sich auf die verfassungsmässige Gestaltung der Staaten auswirkten. Sowohl auf europäischer Ebene, als auch auf nationalstaatlicher Ebene gab es Tendenzen, die radikale oder  ausgeklügelte Veränderungen im politischen System eines Landes oder im europäischen politischen System ermöglichten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welche Richtung diese Verfassungsänderungen gehen? Tragen Sie zu der Effizienzsteigerung und Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Demokratien bei oder sind sie eher unerwünschte Verfallsphänomene, die die Qualität der Demokratien deutlich beeinträchtigen? Anhand des vor zwei Jahren verabschiedeten ungarischen Grundgesetzes, das ähnlich wie andere nationalstaatliche oder gesamteuropäische Bestrebungen nicht zuletzt auch als ein Lösungsversuch der finanziell-ökonomischen Krise zu deuten ist,  wollen wir dieser Frage nachgehen.

Zu Beginn der Konferenz hat Professor Vorländer darauf hingewiesen, dass die Verfassungen verschiedene Funktionen haben. Über die demokratische Legitimierungsfunktion hinaus, besitzen die Verfassungen auch eine sinnstiftenden-symbolische Dimension. Die Analyse dieser unterschiedlichen Funktionen bedarf aber die Einbeziehung verschiedener Disziplinen. Verfassungen können aus diesem Grunde nicht nur aus rechtswissenschaftlichen, sondern auch soziologischen, sowie politik- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven analysiert werden. Professor Vorländer referierte, dass die Verfassungen in konsolidierten Demokratien meistens nicht durch einen Akt der Verfassunggebung verändert oder neu geschaffen werden, sondern durch eine inkrementale Verfassungsentwicklung entstehen. Diese Verfassungsentwicklung erfolgt durch eine kontinuierliche Uminterpretation des Verfassungstextes, die aber meistens in einem Konflikt zwischen der Judikative auf der einen Seite und der Legislative-Exekutive auf der anderen Seite mündet. Neue Verfassungskonsensen werden erst aus einem langwierigen konfliktualen Prozess entstehen. Prof. Brodocz hat in seinem Vortrag dort begonnen, wo Prof. Vorländer sein Referat beendete, nämlich bei der Frage nach der richtigen Deutung eines Verfassungstextes. Die Konfliktlinie um die Deutungsmacht verläuft nach Prof. Brodocz auf mehreren Ebenen: zuerst einmal wird darüber debattiert (vor allem in post-konfliktualen Gesellschaften), was gedeutet werden sollte. Dann wird darüber diskutiert wie es gedeutet werden soll, aber auf einer dritten Ebene geht es um einen Kampf wer schlussendlich die Deutungsmacht besitzt. Prof. Schaal versuchte, die Umrisse einer Theorie der Vertrauensbildung in Demokratien durch verfassungspolitische Debatten zu skizzieren. Er hat eindeutig dafür plädiert, dass nicht nur die neuen, sondern auch westliche Demokratien neue Formen der demokratischen Partizipation benötigen, um den offensichtlichen Vertrauensverlust überwinden zu können.

Dr. Jakab erwähnte, dass die Verfassungen vor allem als Selbstbindung des pouvoir constituants durch  Bestimmung verschiedener Tabus verstanden werden sollten. Er meinte, dass das US-amerikanische Modell, die politische Stabilität durch zwei rechtstechnische Tricks gewährleisten konnte: einmal dadurch, dass die Verfassung nur durch eine komplizierte Prozedur veränderbar ist, andererseits dadurch, dass die verfassungsrechtliche Regelungen durch die Gerichte durchsetzbar sind.

In seiner Keynote Speech hat Professor Oberreuter versucht die Frage „Verfassung leben – Was heißt das?“  in sieben Schritten zu beantworten. Für ihn ist die erste Voraussetzung, um eine Verfassung „leben zu können“, der Wille und die Fähigkeit zum Konsens. Eine unkontroversielle überparteiischer Ebene, d.h. – über parteipolitischen Streitigkeiten stehende Ebene - die einen Wertekonsens und die Grundlagen der Staatsorganisation beinhaltet, muss vorhanden sein. Der Prozess der Verfassunggebung kann als ein möglicher Katalysator dieser Debatten betrachtet werden. Die zweite Voraussetzung ist der Wille zur Norm. Es muss unantastbare „letzte Prinzipien“ geben, die aus a) der Einsicht ihrer Notwendigkeit entstehen, b) die Legitimität der Ordnung begründen und c) dauerhaft aktiv die Ordnung verteidigen. Die dritte Voraussetzung ist eine Abkehr vom Werterelativismus. Die Verfassung muss sich klar zu einer Werteordnung bekennen, welche nicht auf Weltanschauungen, sondern auf den Grundkonsens, wie unter Punkt eins ausgeführt, begründet ist. Erst nach 1949 hat sich die vierte Voraussetzung etabliert: Die Werteordnung muss Vorrang vor der Staatsorganisation haben. Auf die Werteordnung muss auch die Justiz mit allen ihren Rechtswegen aufbauen. Als fünfter Punkt muss die Verfassung ihren sozialen Handlungsauftrag wahrnehmen, indem sie sich eingesteht, dass die soziale und wirtschaftliche Sicherheit und Ausgeglichenheit Grundlage einer funktionierenden Demokratie ist. Punkt sechs spricht die notwendige Transparenz des Verfassungssystems und der Staatsorganisation an. Das Machtdreieck Parlament – Regierung – Justiz muss gründlich getrennt bleiben, und Einflussnahmen vermieden werden. Oberreuter schließt mit Punkt sieben: Eine Verfassung leben heißt, Punkt eins bis sechs zu befolgen.

Tag 2 (Dienstag, 16. April 2013)

Astrid Lorenz (Verfassunggebung zwischen rationalem Kalkül und Konsensorientierung. Die neuen Länder und Berlin im Vergleich) began ihren Vortrag mit dem Hinweis auf die gestiegenen Erwartungen an Verfassungen (sozial, demokratisch, etc.). Die empirische Untersuchungen von Professor Lorenz bezogen sich auf die Verfassunggebungsprozesse in den neuen deutschen Bundesländern und Berlin. Sie ist der Frage nachgegangen, unter welchen Umständen sich Parteien eher rational (d.h. ohne Abweichung von Präferenzen) und wann eher konsensorientiert (d.h. Abweichung von Präferenz ohne eigenen Vorteil) verhalten haben. Die Fallbeispiele wurden ihrer Ähnlichkeit wegen nach dem „most similar cases design“ ausgewählt. Frau Lorenz untersuchte folgende Aspekte: a) der Mindestbedarf des Interessenausgleiches (Kräfteverhältnis im Parlament); b) die Struktur der Konflikte entlang der Parteiengrenze; und c) das Verfahren der Verfassunggebung. Sie fand, dass (1.) die Rationalität/Konsensorientierung phasenweise variiert und (2.) die Beteiligungsbereitschaft der Opposition von dem Kräfteverhältnis im Parlament abhing. Sie hat weiters festgestellt, dass (3.) die Kompromissbereitschaft nach Materien verschieden war, (4.) die Konflikte zum Grossteil über Verrechtlichung gelöst wurden, und (5.) die Mehrheit Interesse an einem Konsens zeigte, obwohl sie dazu rechtlich nicht angewiesen war. Letztendlich (6.) respektierte die Minderheit auch die Mehrheitsverhältnisse. Sie kam zu dem Schluss, dass eine Verfassung, die Mehrheitsverhältnisse im Parlament widerspiegelt, welche sie erschafft, und diese bleiben langfristig erhalten.

Paul Blokker (Universität Trento) stellte in seinem Vortrag (Constitution and Democratic Participation in a Globalized World: The Constitutional Experiment in Iceland) das zivile Engagement in dem Verfassunggebungsprozess in Island vor. Einleitend geht er auf die Situation in Island ein, wo eine Verfassung aus dem Jahre 1944 mit nur sieben Änderungen in Kraft ist. Diese Verfassung ist von Dänemark übernommen worden, sie hat sich allerdings als eine sehr rigide Verfassung erwiesen. Nach der Wirtschaftskrise von 2008 konnte ein starkes ziviles Engagement beobachtet werden, welche grundlegenden Änderungen initiierte. Die sozialistische Regierung hat diese Initiativen unterstützt. So wurde eine „constitutional gathering“ mit 1000 per Los gewählten Beteiligten zusammengestellt, welche bestimmte Teile eines ersten Verfassungsvorschlages erarbeitete. Aus diesen „constitutional gathering“ wurde eine 25-köpfige „constitutional council“ gewählt, der ab April 2011 die Arbeit aufgenommen hat. Dieses Gremium sammelteVorschläge aus allen Teilen der Zivilgesellschaft mithilfe innovativer und leicht zugänglichen Kommunikationsmittel. Das Ergebnis war ein Verfassungsvorschlag, der als Hauptelemente a) den Schutz der isländischen natürlichen und kultureller Ressourcen, b) starke direktdemokratischen Elemente und c) ein „parlamentary constitutional commitee“ (ähnlich eines Verfassungsgerichtes) aufwies. Das Referendum, das über die Verabschiedung dieses Verfassungsentwurfes abgehalten wurde, hatte ein Beteiligungsrate von 50%, wobei die Mehrheit mit „Ja“ stimmte. Das Parlament hat jedoch noch keine Elemente dieses Verfassungsentwurfes umgesetzt, die Frist zur Verfassunggebung wurde jedoch verlängert.

Ralf Thomas Göllner referierte über die Verfassunggebung und die anschließende Reformen in Rumänien seit 1990 (Nach der Reform ist vor der Reform. Die Verfassung Rumäniens im Wandel). Die Grundlage war die am 20. Mai 1990 verabschiedete Verfassung, die sich zwar an westliche Muster orientierte, aber starke symbolische Elemente sowie technische Fehler, Inkongruenzen beinhaltete und hohe materielle und formale Hürden für eine Änderung voraussetzte. So konnte sie bisher nur einmal, im Zusammenhang mit dem EU Beitritt Rumäniens 2003, geändert werden. Seit 2002 haben sich zwei Körperschaften zur Vorlage eines neuen Verfassungsentwurfes zusammengefunden: a) eine Verfassungskommission (Abgeordnete und drei Vertreter der Regierung) sowie b) ein Verfassungsforum welche aus Vertretern jeder Partei und Zivilorganisation besteht. Diese haben mehr als 100 Reformvorschläge ausgearbeitet, von denen einige wichtige in den Verfassungsänderungsvorschlag übernommen wurden. Es fehlt allerding die Anerkennung der ethnischen Vielfalt des Landes, viele Hintertüren sind offengelassen worden, welche Korruption begünstigen können, und systemimmanente Fehler führen zu Situationen, wie die Blockadepolitik von Basescu. Seit Februar 2013 hat sich erneut eine Verfassungskonferenz zusammengefunden. Zum Abschluss hat Göllner die Präsenz der Notwendigkeit der Verfassungsänderung vor Augen geführt: Statistiken zufolge empfinden 75% der Rumänen die Verfassungsänderung als wichtig, und 80% der Bevölkerung finden, die gegenwärtige Verfassung wird nicht respektiert.

Der ungarische Ombudsman für Menschenrechte, Máté Szabó, begann seinen Vortrag mit der Feststellung, dass die ungarische Verfassung ein Schnellschuss war, welcher in den folgenden zwei Jahren stetig nachgebessert werden musste; so wurde vor kurzem die vierte Novellierung des Grundgesetzes verabschiedet. In dem Vortrag hat er die ungarische Situation mit den deutschen Entwicklung im 20. Jahrhundert verglichen. Er argumentierte gegen die oft vertretene Ansicht, dass die Situation in Ungarn mit der von Weimar bestimmte Ähnlichkeiten aufweise (z.B. einer polarisierten Gesellschaft, ökonomischer und sozialer Unsicherheit, in einer Zeit in der Stimmen radikaler Parteien immer stärker wurden, wurde die Verfassung verabschiedet). Der Begriff „Krisenverfassung“ ist adäquat, weil eine Verfassung nach deutschem Muster herausgearbeitet wurde, jedoch ohne „Leib und Seele“ ist. Aus diesem Grund, und weil Verfassungskultur, Vergangenheitsbewältigung sowie die Zusammenarbeit zwischen Staat und Zivilgesellschaft gefehlt hat, kann die Verfassung nicht funktionieren. Jedoch unterscheiden sich die internationalen Rahmenbedingungen heute sehr von denen in Weimar: die Mehrdimensionalität der europäischen Verfassungswirklichkeit bewahrt die ungarische Verfassung vor einer Weimarisierung. Dennoch, so schließt Szabó, hat die jetzige Verfassung „nicht Probleme gelöst, sondern eher neue ausgelöst.“

Kálmán Pócza hat in seinem Vortrag„Kontroverse Verfassungsgebung mit einer Kompromisslösung am Ende? Text und Kontext des Ungarischen Grundgesetzes” als ein zentraler Punkt die These vertreten, dass es keine wertfreien und wertneutralen Verfassungen geben kann. Wird dieser Ansatz, sowie die konservativen Vorbehalte gegenüber der Neutralität der Menschenrechte und zugleich die These des positiven/inklusiven Kompromisses akzeptiert, dann ergibt sich als Konklusion seiner Analyse, dass das neue Grundgesetz keine urkonservative Verfassung ist, sondern eher ein Modell des inklusiven/positiven Kompromisses. Im Text sind liberale und konservative, nationale und universale Werte ebenso auffindbar, wie konservative Bezugnahmen auf die historische Verfassung von Ungarn, die aber durch den Artikel Q Absatz 2 des Grundgesetzes ausbalanciert wird, der einen Einklang zwischen dem ungarischem Recht und dem Völkerrecht sicherstellt. Falls dieses Interpretationsschema stichhaltig ist, dann stellt sich offensichtlich die Frage, wie letztendlich diese äußerst unglückliche Auseinandersetzung um das neue Grundgesetz entstand? Warum scheint dieser Text keinen kompromissorientierten Grundcharakters zu vertreten? Herr Pócza hat hier vier Gründe genannt: als erster Grund wird der Charakterzug der politischen Eliten und das Fehlen einer Selbstbeschränkung genannt, das die politischen Eliten traditionell in der ungarischen Geschichte fast immer kennzeichnete. Als Folge dieses Mangels an Selbstbeschränkung kann eine fehlende Großzügigkeit der Regierungsparteien gegenüber der Opposition erkannt werden, währenddessen die mangelnde Selbstbeschränkung der Opposition durch eine Mentalität der Systemopposition erklärbar ist. Nicht der Regierungswechsel sondern der Regimewechsel war immer schon das Hauptziel der jeweiligen Opposition. Als Grundlage für alle drei Faktoren diente das gegenseitige Misstrauen, und das ist der vierte, fundamentale Faktor, der sowohl die jeweiligen Regierungsparteien als auch die Oppositionsparteien seit Jahrhunderten charakterisierte.

Professor Küpper begann seine Ausführungen mit dem Hinweis auf den Regierungswechsel von 2010. Die Orbán-Regierung hat eine Umstrukturierung des Landes auf vielen Ebenen vorgenommen. In der Verfassung kommt dies in drei Aspekten zur Geltung: Staatsgrundsätze, Grundrechte und die Staatsorganisation. Professor Küpper hat sich in seinem Vortrag auf den letzten Punkt beschränkt. Das grundsätzliche Problem bei der Verfassunggebung ist, dass die Legitimität des neuen Grundgesetzes zwar auf der vorherigen Verfassung basiert, dieser aber gleichzeitig die Gültigkeit aberkennt. Des weiteren sieht Küpper Probleme in folgenden Aspekten des Regierungssystems. 1) Das Parlament wurde „kupiert“, indem es die Haushaltshoheit verloren hat. Souveränitätsrechte wurden hin zur Exekutive verschoben, indem zum Beispiel die EU Integration reine Regierungsangelegenheit bleibt. Insgesamt kann man eine Akzentverschiebung bei der grundsätzlich beibehaltenen Gewaltenteilung in Richtung Exekutive bemerken. Küpper hat den Vorwurf aufgegriffen, dass sich Fidesz mit ihrer Politik Machtbasen etablieren möchte. Beispiele sind hier die Umstrukturierung des Verfassungsgerichshofes und des Haushaltsrats, sowie der Wahlbezirke, sowie der Versuch der Senkung des Rentenalters bei Richter. Allerdings hatte man sich eine symbolische Wirkung der Verfassunggebung gewünscht, die als notwendig empfunden wurde.

Professor Tóka beschränkte sich in seinem Vortrag auf das Wahlsystem. Er ist der Frage nachgegangen, wie dieses durch die neue Verfassung geändert wurde. Er hat bestimmte Ziele der Regierung angeführt und sich gefragt, ob diese erfolgreich oder nicht durchgeführt worden sind. Die Reduzierung der Anzahl der Parlamentssitze sowie die Wahlberechtigung der Auslandsungarn wurde realisiert. Das Wahlrecht sollte vereinfacht werden, was nur teilweise glückte. Neue internationale Standards sollten in das System integriert werden, was teilweise geschehen ist. Professor Tóka deutete sodann auf konkrete Elemente des Wahlrechts hin, welche er für problematisch erachtete. Beispielsweise, die Verwehrung des Wahlrechts für Gefangene und Schutzbefohlene oder die Problematik, dass Bürger die in ethnische Listen eingetragen sind, eine Stimme nur dieser Wahlliste geben können. Er sah auch darin ein Problem, dass Wahlurnen aus dem Ausland nur von Mitarbeitern der Regierung überprüft werden. Überhaupt ist es für Oppositionsparteien schwierig zwei Wahlhelfer per Wahlkreis zur Verfügung zu stellen, sodass sie möglicherweise ganz aus dem Prozess des Stimmenzählens ausscheiden. Als letzter Punkt bemängelte Tóka die Wahlarithmetik. Durch das neue System könnten einige Stimmen doppelt gezählt werden, wobei einige verloren gehen würden. Insgesamt tendiert das neue Wahlsystem zu einer Mehrheitswahl, die eine weitere Polarisierung der Parteienlandschaft als Folge haben kann.

Frau Milchram deutete auf eine Besorgnis erweckende Situation hin: in der ungarischen politischen Landschaft scheinen nicht nur Parteien und Medien polarisiert zu sein, sondern auch Meinungsforschungsinstitute können in zwei Lager eingeteilt werden. Sie hat insgesamt vier öffentliche Umfragen von den Instituten Nezőpont und Median verglichen. Sie wurden im Dezember 2010 und im April 2011 zu dem Thema der Verfassunggebung durchgeführt. Die zwei untersuchten Fragen bezogen sich einmal auf die Notwendigkeit der Verfassunggebung und andererseits auf das Mandat der Regierung diesen Prozess durchzuführen. Bemerkenswert ist, dass die Umfragen zu widersprüchlichen Ergebnisse geführt haben. Da die Meinungsumfragen zu gleicher Zeit ausgeführt wurden, konnte das politische Stimmungsfeld als Variable ausgeschlossen werden. Aus diesem Grunde kam Frau Milchram auf das Ergebnis, das die politische Orientierung der Institute selber die Ergebnisse stark beeinflusst haben. Dieser Einfluss zeigt sich besonders bei der Verfassunggebung-Umfrage (weniger bei den Sonntagswahlen-Umfragen), weil die öffentliche Meinung bei diesem Thema für die politischen Akteure von größerer Bedeutung ist.

Professor Hörcher eröffnete die Diskussion über die Frage der Werte einer Verfassung. Die Frage ist ähnlich der vom Huhn und dem Ei: ein Grundkonsens an Werten wäre in einer Gesellschaft notwendig, um eine Verfassung schreiben zu können, andererseits ist es aber auch Teil der Funktion einer Verfassung diese Werte festzulegen und abzusichern. In dieser Hinsicht sind sich die ungarische und europäische Verfassungen ähnlich: ihre Kodifikation ist eine historische Notwendigkeit gewesen, welche aus einem Werteverfall in den jeweiligen Gesellschaften entsprang. Hörcher stützte sich in seinem Vortrag auf die Diskussion zwischen Habermas und Ratzinger (Dialektik der Säkularisierung – über Vernunft und Religion). Er argumentierte, dass die zwei Gelehrter in ihren Aussagen essentiell nicht sehr weit voneinander liegen, da Habermas die Notwendigkeit einer Verfassung für seine politische Freiheit voraussetzt, und Ratzinger auch die Freiheit in dem Rahmen von rechtlichen Vorgaben realisiert sieht. Hörcher benennt die Arten von gemeinschaftlich-kulturellen Werten als a) symbolische (Nation, Familie, soziale Verantwortung) und b) kulturell-historische Werte. An Böckenförde anlehnend schließt er mit dem Hinweis darauf, dass man die inneren Impulse und verbindenden Kräfte der Religionen mit in die säkularisierte Staatsstruktur mit aufnehmen sollte.

Die Veranstaltung wurde vom Projekt TÁMOP-4.2.2/B-10/1-2010-0015 und vom Ministerium für gesellschaftliche Ressourcen unterstützt.

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