Am 1. Dezember 2016 diskutierten die Philosophin Ágnes Heller und die Germanistin Edit Király, moderiert von Historiker Dieter A. Binder (Leiter des Lehrstuhls für Kulturwissenschaften), verschiedene Aspekte der Revolution, aber auch die Evolution der spezifischen Erinnerungskultur zu 1956 und deren Institutionalisierung speziell nach der Wende 1989. Die Veranstaltung – organisiert von Ursula Mindler-Steiner – fand in der Österreich-Bibliothek György Sebestyén an der Andrássy Universität Budapest statt und war die letzte Veranstaltung in der Vortragsreihe zur Ungarischen Revolution 1956, die vom akademischen Mittelbau der AUB organisiert wurde.
Binder bat die Diskutantinnen zu Beginn der Gesprächsrunde, ihre Sicht auf sogenannte „Bruchlinien in der ungarischen Gesellschaft“ seit dem Zweiten Weltkrieg darzulegen. Dabei waren sich beide einig, dass 1956 einen gesellschaftspolitisch aber auch sozial bedeutsamen Bruch darstelle, allerdings betonte Heller, dass 1956 nicht ohne die Ereignisse und Änderungen des Jahres 1953 verstanden oder erzählt werden könne. Als Zeitzeugin und selbst an der Revolution Beteiligte teilte sie mit dem Publikum dabei auch ihre persönlichen Erfahrungen und betonte, dass das Ende des „Regimes der absoluten Furcht“ 1953 sowie die „andere Sprache“, die Imre Nagy in ihren Augen im Vergleich zu anderen kommunistischen Funktionären gesprochen hätte, erst die Bedingungen geschaffen hätte, in denen ein Revolutionsversuch überhaupt möglich geworden sei. Dabei schilderte sie die Ereignisse des Herbstes 1956 vor allem als soziales Phänomen mit einer spezifischen Eigendynamik, die nicht vorausgesehen hätte werden können.
Daran knüpfte auch Király – eine Repräsentantin der Generationen, die 1956 retrospektiv erfuhren – an, die diese soziale Dimension der Ungarischen Revolution in Referenz zu ihrer eigenen politischen Sozialisation als wichtiges Identifikationsmerkmal und polarisierendes historisches Ereignis beschrieb. Sie hob die – für sie und ihren Freundeskreis zentrale – Bedeutung István Bibós als Symbolfigur hervor, womit dem Publikum auch die Rolle von Einzelpersonen beziehungsweise die Wirkung ihrer posthumen Instrumentalisierung in der Auseinandersetzung um das (Nicht-)Gedenken an 1956 eröffnet wurde. Gerade zum Stichwort Erinnerung betonte Király die Schwierigkeit, rückwirkend die Pluralität der Revolution und der zu dieser Zeit präsenten Ideen und Programme zu fassen. Erinnerung und Gedenken wurden damit als selektive Prozesse beschrieben. Diese Selektion von Inhalten, Fakten, Deutungen und Wertungen im Zuge von Jubiläen aber auch im Rahmen staatlicher Feiertage stelle gerade im Hinblick auf die Ungarische Revolution ein großes Konfliktfeld dar, das Király mit der noch „heißen Phase der Erinnerung“, in der die Gesellschaft sich (noch) nicht auf ein einheitliches Narrativ, einen einheitlichen Kanon der Erinnerung geeinigt habe, erklärte.
Heller formulierte in diesem Zusammenhang – aufbauend auf den Kommentar von Binder über die Rolle von Nationalfeiertagen in Bezug auf die Formung nationaler Kollektive – eine fundamentale Kritik an staatlichen Feiertagen dieser Art. Eine politische Instrumentalisierung historischer Ereignisse für jeweilige parteipolitisch und ideologisch aufgeladene Positionierungen sei strikt abzulehnen. In dem Sinn plädierte Heller für ein Erinnern ohne staatlichen Feiertag – für ein Erinnern im Privaten. Darauf bezugnehmend konstatierte Király, dass der staatliche Feiertag im Gedenken an die Ungarische Revolution zu einem Schauplatz eines Verdrängungskrieges geworden wäre. In diesem Kampf ginge es darum, welche Aspekte oder Personen wieviel Platz in der nationalen Geschichte zugesprochen bekommen sollten. Einig waren sich beide Diskutantinnen darin, dass die Heroisierung und (historisch verkürzte) Darstellung einzelner Personen im Kontext von Erinnerung und Gedenken ein problematisches Feld eröffne, welches zur Manipulation der „Nation“ genutzt werden könne.
Ein kurzer Abriss verschiedener Phasen der Erinnerungskultur im Hinblick auf 1956 verdeutlichte nicht nur deren Entwicklung, sondern auch die Versuche des kommunistischen Regimes, ein Gedenken bis 1989 zu unterbinden. Ebenso wie verschiedene Phasen des Erinnerns einander abzulösen scheinen, existieren unterschiedliche Erinnerungspraxen auch parallel. Dies wurde am Beispiel der Gedenkfeierlichkeiten von Gruppen, die im Laufe der Revolution emigrierten und im Exil verblieben, gegen Ende der Gesprächsrunde diskutiert.
Zusammenfassend hielt Binder am Ende der Veranstaltung fest, dass die Kombination unterschiedlicher Wahrnehmungen mit politischen Instrumentalisierungsversuchen die Erinnerung und das Gedenken an die Ungarische Revolution zu diesem schwierigen und „heißen“ Thema werden ließe, das es letztlich auch 2016 noch immer sei.
Text: Lisbeth Matzer