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Prof. Thürer über Rolle der Schweiz als Modell für Europa
Carl-Lutz-Vortrag

Am 6. März 2013 veranstaltete die Andrássy Universität Budapest (AUB) in Kooperation mit der Schweizerischen Botschaft in Budapest einen weiteren Vortrag ihrer schon zur Tradition gewordenen Vortragsreihe zu Ehren von Carl Lutz. Prof. Dr. Dr. h.c. Thürer, aus Zürich, angesehener Völkerrechtler, Mitglied des IKRK und amtierender Präsident der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht bot der interessierten Zuhörerschaft einen Vortrag über „Die Schweiz – ein Modell für Europa?“.

Einführend gestand der Professor, er sei zwar ein grosser Fan von Europa, jedoch kein grosser Fan der Europäischen Union wie sie sich im Augenblick entwickle. Es scheint vielleicht etwas anmassend, die kleine Schweiz als Modell für die Europäische Integration darzustellen, er meine diesen Vergleich jedoch in der Funktion eines Katalysators, durch welchen man die Vorzüge und Nachteiler beider Systeme beleuchten kann.

Die Schweizer Bundesverfassung, welche ein stetig sich wandelndes Produkt der internationalen Politik ist – so hat es alemannische Wurzeln und Einflüsse aus der französischen Revolution sowie der amerikanischen Verfassung einverleibt – besitzt dennoch sein „geni propre“. Die drei tragenden Säulen der Schweizer Bundesverfassung sind der Föderalismus, das Demokratieverständnis und die Rule of Law.

Ersteres, der Föderalismus, ist dem Geist des Schweizer Philosophen Denis de Rougemont nachzuspüren. Durch die fehlende Hegemonialmacht und den Verzicht auf „Systemwillen“ kann es in einer wahren Föderation kein Minderheitenproblem geben. Durch die „Liebe zur Komplexität“ werden in ihr nicht Unterschiede ausgemerzt oder eingeschmolzen (wie in totalitären Systemen), sondern im Gegenteil diese Eigenheiten gefeiert. Auch ist ihr die Nähe der Bürger zu einander essenziell, aus der das politische System entwachsen muss, im Gegensatz zu einer zentralen Regierung.

Das Demokratieverständnis der Schweizer Verfassung ist das der berühmten (halb)direkten Demokratie. Die Bürger besitzen Sachentscheidungsrechte die über das einfache Wählen von Repräsentanten hinausgehen; sie können im Referendum Regierungsentscheide vor das Volk ziehen, oder in der Volksinitiative eigene Gesetzesvorschläge hervorbringen. Letzteres Prinzip ist auch der EU nicht fremd, wurde doch mit dem Lissabonvertrag das Bürgerinitiativrecht eingeführt. Diese Massnahme, genauso wie andere Demokratie-stärkende Massnahmen (wie die direkte Wahl des Europäischen Parlamentes oder die Stärkung nationaler Parlamente) sind in der EU zu spät und zu schwach umgesetzt worden.

Die Europäische Integration beruht nämlich gar nicht auf einer politischen, oder Werteinheit. Die EU war als eine Wirtschaftskooperation konzipiert. Der Binnenmarkt bedingt zuerst die Grundfreiheiten, nicht etwa ein Normenkonsens. Jegliche nachträglich eingeführten demokratischen Elemente sind (noch) schwache technokratische Massnahmen.

Unter „Rule of Law“ versteht Professor Thürer die grundlegende Bedeutung der Verfassung in dem (föderalen) System. Sie sollte „Ziele, Werte, Prinzipien und Rechte“ definieren, und grundlegende Entscheidungsstrukturen regeln. Es sollte das „common sense“ festschreiben, welches die Vermischung von Vernunft, Interessen und Emotionen zu dem Wissen über „was richtig ist“ emulgiert. Gewöhnlich, so Thürer, trifft die Schweiz dieses „common sense“, wobei jedoch auch hier Fehlentscheidungen nicht ausgeschlossen sind, wie das per Volksentscheid verhängte Minarett-Verbot, oder das Ausschaffungs-Gesetz.

In der EU ist jedoch die Verfassung als solches 2005 an dem Veto von Frankreich und Holland gescheitert. Thürer vertritt die Ansicht, dass dies der Europäischen Integration peinlich geschadet hat. Es geht nicht um das fehlende Moment der Verfassungsgebung, welches zu betrauern ist, sondern um den fehlenden „Konstitutionalismus“ – die Sicherheit, dass jeder Rechtsakt auf einem Grundkonsens an Werten beruht. So konnte es geschehen, dass die EU zu einem wertentleerten Kommerz-System wurde. Die Debatte über den Konstitutionalismus in der EU ist gut geeignet die Debatte auf Grundprinzipien der Integration zu fokussieren.

Abschliessend brachte Thürer das Beispiel des Igels und des Fuchses auf, wie es sein Kollege Ronald Dworkin in seinem Buch „Justice for Hedgehogs“ ausgearbeitet hat. Der Fuchs weiss viele Sachen, über alles Mögliche, der Igel jedoch weiss nur eine grosse Sache. Diese eine grosse Sache – wie sie die „verigelte“ Schweiz zum Beispiel im zweiten Weltkrieg gezeigt hatte – ist ein Wertesystem. Dieses sollte bei all der technokratischen Arbeit an der Europäischen Integration nicht aus dem Auge verloren werden.

Katalin Györy

 

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