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"Nationalstaat und ethnische Homogenisierung Ungarn und Rumänien im Vergleich (1867-1914)"
Bericht zur Jahrestagung der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa

Die historischen Gebäude der Andrássy-Universität Budapest (AUB) boten einen repräsentativen Rahmen für die Jahrestagung der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa (KGKDS), die vom 18. bis zum 20. September in Budapest stattfand. Der Umgang mit ethnischen und konfessionellen Minderheiten während des ‚nationalen‘ 19. Jahrhunderts bildete den thematischen Schwerpunkt der internationalen Tagung, die gemeinsam mit der AUB und dem Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen (IdGL) veranstaltet wurde.

Ziel der Tagung, in dessen Rahmen auch ein von  Judit Klement (Historisches Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Budapest) und Norbert Spannenberger (Universität Leipzig) geleitetes Nachwuchsseminar stattfand, war es, für den Zeitraum von 1867 bis 1914 zeitgenössische Strategien der Nationalisierung und ethnischen Homogenisierung in Südosteuropa am Beispiel Ungarns und Rumäniens vergleichend aufzuzeigen und zu analysieren. Dabei wurde diskutiert, mit welchen Konzepten die beiden entstehenden Nationalstaaten versuchten, die Idee des homogenen Nationalstaats und die multiethnische Zusammensetzung ihrer Bevölkerung in Einklang zu bringen. Neben der staatlichen Ebene fokussierten die Wissenschaftler/innen auch den interkulturellen Alltag, der sich beispielsweise in den vielfältigen zivilgesellschaftlichen und kulturellen Organisationen der untersuchten Staaten wiederspiegelt. Trotz eines alle Lebensbereiche sukzessive durchdringenden Nationalstaates offenbarten die vorgestellten Fallbeispiele, dass Praxis und Theorie der Homogenisierung mitunter weit auseinander klafften.

Die Tagung, für deren inhaltliche Gestaltung Gerhard Seewann (Universität Pécs/Fünfkirchen) verantwortlich zeichnete, bildete den Auftakt zu einem dreiteiligen Tagungszyklus der KGKDS, der in einem Längsschnitt von 1867 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts das Verhältnis von Nationalstaat und ethnischer Homogenisierung, d. h. das interethnische Zusammenleben und die Nationalitätenpolitik in Rumänien und Ungarn vergleichend thematisiert.

Die Tagung wurde mit Grußworten von Mathias Beer, dem Vorsitzenden der KGKDS, dem Rektor der AUB András Masát sowie dem Innenminister des Landes Baden-Württemberg Reinhold Gall eröffnet. Die Redner betonten die Brisanz und Aktualität des Themas. Fragen des Verhältnisses von Mehrheiten und Minderheiten seien nicht nur ein historisches Thema, sondern eines, das, historisch gewachsen, die Gegenwart vieler Staaten, nicht zuletzt jene von Ungarn und Rumänien und ihr Verhältnis zueinander bestimme. Gerade deshalb sei der Austausch zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik so wichtig.

MATHIAS BEER (IdGL) führte anschließend in die Tagung ein. Er hob hervor, dass den modernen Nationalstaat das Versprechen auf Integration und Partizipation sowie eine aggressive nationale Haltung charakterisiert. Diese Ambiguität ergab sich aus dem Primat des Nationalen, das eine scharfe Abgrenzung gegenüber anderen Staaten und nach innen eine Ausgrenzung der als nicht zur staatstragenden Nation Zugehörigen zur Folge hatte. Die in der Literatur immer noch anzutreffende Dichotomie zwischen einem ‚humanen‘ westeuropäischen Nationalismus und einem aggressiven osteuropäischen Nationalismus bezeichnete Beer dabei als überholt. Vielmehr gelte es, staatliche und regionale Spezifika in den Fokus zu nehmen, wofür sich ein Vergleich zwischen Rumänien und Ungarn besonders eigne. Nicht nur mit Blick auf Minderheiten besaßen die beiden  in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Nationalstaaten eine stark divergierende Ausgangslage, was jeweils unterschiedliche Konzepte und Methoden zur ethnischen Homogenisierung zeitigte.

Den Eröffnungsvortrag hielt JUDIT PÁL (Babeş-Bolyai Universität, Cluj/Klausenburg). Anhand der Ereignisse der Revolution von  1848/49 und am Beispiel Siebenbürgens ging sie auf die Frage ein, wie sich die tradierten ständischen Nationen zu modernen Nationen transformierten und die damit verbundenen Folgen. In dem habsburgischen Fürstentum an der östlichen Peripherie der Donaumonarchie zeichneten sich multiple Konfliktlinien ab, die situativ verschiedene Koalitionen ermöglichten. So strebten der magyarische Adel und die Szekler eine Vereinigung mit dem Königreich Ungarn an, während sich die Eliten der Siebenbürger Sachsen primär um ihre Privilegien und ihre Autonomie sorgten und die rumänischen Intellektuellen auf eine Gleichberechtigung der eigenen Nation pochten. Dabei erhielt das Thema der Verwaltungssprache bereits in einem frühen Stadium der sich anbahnenden nationalen Konflikte einen erheblichen Stellenwert. Während der Revolution eskalierten die Spannungen der Nationalbewegungen schließlich. Ihr Verhältnis zueinander analysierte Pal am Beispiel der Herausbildung der einzelnen Nationalfarben. Ihnen kam eine hohe symbolische Bedeutung während der Revolution von 1848/49 zu. Sie erzeugten Identität und unterstrichen Abgrenzungsbestrebungen. So bildeten sich die rumänischen und siebenbürgisch-sächsischen Fahnen erst als Reaktion auf die ungarische Nationalbewegung heraus.

Das erste Panel der Tagung „Nationalitätenpolitik“ wurde von ELLEN BOS (AUB) moderiert. Es wurde mit dem Vortrag von GÁBOR EGRY (Institut für politische Geschichte, Budapest) eingeleitet, der einen differenzierten Überblick über die Entwicklung Nationalitätenpolitik Ungarns im langen 19. Jahrhundert bot. Als wesentliche Felder der Magyarisierung bezeichnete er dabei die Schul- und Sprachpolitik. Entgegen weit verbreiteter Annahmen konnte Egry zeigen, dass die Magyarisierung keineswegs kontinuierlich verlief und auch nicht flächendeckende Wirkung zeigte. So war zum Beispiel in Komitaten mit einem geringen Anteil magyarischer Bevölkerung die staatliche Homogenisierungspolitik keineswegs erfolgreich. Egry plädierte grundsätzlich dafür, regionale Pressure-Groups und Akteure stärker in den Blick der Forschung zu nehmen. Damit verwies er auf einen Aspekt, der in der weiteren Diskussion noch von Bedeutung sein sollte: die notwendige regionale Differenzierung.

Diesen Hinweis griff FRIEDRICH GOTTAS (Universität Salzburg) auf und thematisierte in einer Fallstudie, wie sich das interethnische Zusammenleben und die Assimilierung bei den Zipser Sachsen in Oberungarn gestaltete. Aus ungarischen Perspektive, so Gottas, könne das Zusammenleben durchaus als gelungen betrachtet werden, da sich der Großteil des Zipser Bürgertums ohne größere Widerstände in das neue Staatswesen integriert habe. Das Hungarus-Bewusstsein, bei dem eine staatspatriotische Einstellung gegenüber dem Vaterland Ungarn das Verhalten der Individuen prägte, sei bei den Zipser-Sachsen ausgeprägt gewesen. Dennoch warnte Gottas davor, das Bekenntnis zur ungarischen Sprache unbedingt mit einem ‚Identitätswechsel‘ gleichzusetzen, was er am Beispiel des Vereinswesens der Zipser Sachsen verdeutlichte. Im Unterschied etwa zu den Siebenbürger Sachsen erfüllten diese Vereine keine nationale Schutzfunktion.

Einem literaturwissenschaftlichen Ansatz folgend fragte ANDRÁS BALOGH (ELTE, Budapest, Babeş-Bolyai Universität, Cluj/Klausenburg) nach der Fremdwahrnehmung der Nationalitäten Ungarns und Rumäniens in ausgewählten Reiseberichten des späten 19. Jahrhunderts. Sein Befund, dass Minderheiten im Unterschied zur Verarbeitung von Technisierung- und der Umbruchserfahrungen in Reiseberichten der Zeit kaum und wenn, dann in Form von Stereotypen Erwähnung fänden, war sicher der vom Referenten getroffenen Auswahl geschuldet. Demensprechend kritisch wurde seine These diskutiert und mit dem Hinweis auf eine Reihe von Beispielen grundsätzlich in Frage gestellt.

ENIKŐ DÁCZ (Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, München) fragte nach dem Verhältnis der Nationalitäten  in Siebenbürgen aus dem Blickwinkel der örtlichen, regionalen Presse. Sie verglich dabei drei Zeitungen, die den nationalen Diskurs in der jeweiligen Gruppe prägten. Neben der ungarischen „Ellenzék“ aus Klausenburg und des rumänischen „Telegraful Romȃn“ aus Hermannstadt bezog sie die sächsische „Kronstädter Zeitung“ in ihre methodisch abgesicherte quantitative und qualitative Analyse ein. Nach Dácz dominierten in der Presse zumeist kulturelle Themen die Berichterstattung. Hier bot sich für die ‚Minderheitenmedien‘ eine Möglichkeit, nationale Aspekte zu thematisieren. Ethnische Stereotype hingegen zeigten sich in den Zeitungen zumeist in Form von Anekdoten, Märchen und Schilderungen aus dem sozialen Alltag. Der Beitrag verdeutlichte einerseits die Rolle der Medien bei der Prägung nationaler Paradigmen im öffentlichen Diskurs und unterstrich zudem die Fruchtbarkeit eines vergleichenden Ansatzes, der bei der Presseanalyse zu der untersuchten Region und der verfolgten Fragestellung der Tagung noch in den Kinderschuhen steckt.

Im Mittelpunkt des zweiten, von Gerhard Seewann moderierten Panels standen die Nationalitätenpolitik Ungarns und Rumäniens und ihre Auswirkungen auf einzelne Minderheiten. AGNIESZKA BARSZCZEWSKA (Universität Warschau) fragte in ihrem Beitrag am Beispiel der Csangós in Rumänien und der Rusinen in Ungarn nach dem Einfluss der Kirchen auf den Nationalisierungsprozess ethnischer Gemeinschaften. Die enge Zusammenarbeit zwischen der katholischen Kirche und dem orthodoxen rumänischen Staat bewirkte, dass sich die katholischen Csángós zunehmend rumänisierten. Bezüge zu den Magyaren verloren für sie sukzessive an Bedeutung. Die griechisch-katholischen Eliten der Rusinen hingegen entfernten sich von der rumänischen Variante ihrer Kirche und näherten sich dem ukrainischen Modell an. Die Rusinen bezeichnete Barszczewska daher als eine ‚werdende Nation‘. Mit ihrem Referat wies Barszczewska auf einen zentralen Aspekt der Fragestellung der Tagung hin: Die ambivalente Position konfessioneller Akteure und der Religion in der Nationalitätenpolitik.

Auf der Grundlage einer riesigen Datenbank ging VICTOR KARÁDY (Central European University, Budapest) in seinem auf Englisch gehaltenen Vortrag der Frage nach, wie die einzelnen Bevölkerungsgruppen Ungarns im ungarischen Bildungswesen vertreten waren. Detailliert nach Schultypen, mittleren und höheren Ausbildungsstätten sowie bezogen auf die Schulerfolge und Durchschnittsnoten wies er die in vielen Bereichen, besonders in den medizinischen, natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächern und überdurchschnittliche Präsenz der deutschen und jüdischen Bevölkerung im ungarischen Bildungswesen nach. Diese Dominanz führte Karády auf verschiedene Faktoren zurück. Das bei den beiden Gruppen vorhandene und aufstiegsorientierte Bürgertum bildete seiner Ansicht nach eine der Grundlagen für ihren Erfolg. Für kontroverse Diskussionen sorgten die Kriterien, die der Referent für die ethnische Zuschreibung der einzelnen Gruppen anwandte. Als „Deutscher“ wurde zum Beispiel von Karády aus Mangel an zuverlässigen Quellenhinweisen eine Person anhand ihres Nachnamens eingestuft. Zudem blieb die Frage offen, ob die ermittelten schulischen Erfolge als Erfolg der Magyarisierungspolitik zu werten sind.

ELENA MANNOVÁ (Universität Bratislava/Pressburg) thematisierte das deutsche Vereinsleben in Oberungarn. Dabei betonte sie, dass in den multiethnischen Städten der Region nicht nur eine Homogenisierung der Bevölkerung zu beobachten sei, sondern auch eine Hybridisierung. Die ethnische Zuordnung der Bevölkerung verschloss sich dabei einer einfachen Zuschreibung  als Magyar, Slowake oder Deutscher. Kulturelle Übergänge, situative Verhaltensweisen und sozioökonomische Veränderungen erzeugten vielmehr ein sehr vielfältiges Bild multipler Identitäten. Der Beitrag Mannovás ließ sich auch als eine Antwort auf die Ausführungen von Gottas verstehen. Während dieser den ‚Verlust des Deutschtums‘ bzw. die ‚Schutzfunktion‘ der Vereine in den Vordergrund stellte, plädierte Mannová dafür, nationale Kategorien zu überwinden und die Vereine als Räume der Symbiose zu betrachten.

Das dritte Panel der Tagung unter der Leitung von Mathias Beer widmete sich den Instrumenten und Foren der Homogenisierungspolitik. Als ein solches Instrument stellte URSULA WITTSTOCK (Babeş-Bolyai Universität, Cluj) die Pläne rumänischer Eliten in den 1870er Jahren dar, ein rumänisches Nationaltheater in Siebenbürgen zu etablieren. Als „Bühne der Nation“ sollte es vorwiegend der rumänischen Nationalbewegung Aufschub verleihen. Die Zeitschrift „Familia“ wurde dabei zu einem Sprachrohr diverser Initiativen. Da es jedoch an Geld, einem Gebäude, Schauspielern sowie an ‚nationalen‘ Theaterstücken fehlte, blieb das Unterfangen erfolglos. Lediglich das Stadttheater in Hermannstadt bot sich als Bühne für rumänische Aufführungen in Siebenbürgen an.

JOSEF WOLF (IdGL) stellte Karten als Instrumente für Homogenisierungsbestrebungen vor. Er erläuterte zunächst die Funktionsweise von Karten im Allgemeinen und von ethnischen Karten im Besonderen und verwies auf die prägende Wirkung von solchen Karten. Dann stellte er für die Zeit des Dualismus an einzelnen Kartenbeispielen dar, wie die Autoren versuchten, die Präsenz der Magyaren und damit die ungarische Nation überproportional darzustellen. Neben der Farbgebung sei dabei auch die Methode der Einfärbung entscheidend gewesen, wie Wolf ausführte. Die Flächenmethode führe im Allgemeinen dazu, die quantitative Verteilung von Nationalitäten nicht adäquat zu repräsentieren, da Minderheiten gegenüber der Mehrheitsbevölkerung schnell in den Hintergrund geraten. Vorteilhafter und präziser sei hingegen die Diagrammmethode, bei der regionale Spezifika in Form von Kreisen objektiver darstellbar seien.

Die von Gerhard Seewann und Mathias Beer geleitete lebhafte Abschlussdiskussion griff auf der Grundlage der Einzelbeiträge und der Diskussionen die zentrale Fragestellung der Tagung noch einmal auf. Dabei standen fünf Aspekte im Mittelpunkt: Erstens wurde ein vorsichtiger Umgang mit zentralen Begriffen angemahnt, die keineswegs den Quellen ‚übergestülpt‘ werden dürften; zweitens das Verhältnis von staatlichen, auf Homogenisierung zielenden Maßnahmen und deren Umsetzung bzw. Scheitern vor Ort; drittens die Akteure und Instrumente der Homogenisierungspolitik genauer in den Blick zu nehmen; viertens die Notwendigkeit der regionalen und lokalen Differenzierung und fünftens die Einbettung der Entwicklung in den beiden Staaten in einen breiteren Kontext, um besser allgemeine Entwicklungen von regionalen Besonderheiten unterscheiden zu können. Damit leiste die Abschlussdiskussion wichtige Vorarbeit für die zweite Tagung der KGKDS im Rahmen des Tagungszyklus „Nationalstaat und ethnische Homogenisierung. Ungarn und Rumänien im Vergleich“. Die Tagung, die den Zeitraum von 1918 bis 1950 im Blick hat, wird vom 8. bis 10. Oktober 2015 an der Babeş-Bolyai Universität, Cluj/Klausenburg (Rumänien) stattfinden.

Bericht: Dr. Henriett Kovács

Bilder: Szecsődi Balázs

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