Am 25. Juni 2014 luden die Fakultät für Mitteleuropäische Studien (MES) an der Andrássy Universität sowie das Österreichische Kulturforum Budapest (ÖKF) zum Abendvortrag von Prof. Oswald Überegger (ZRG Bozen; Senior Research Fellow an der AUB-MES) zum Thema „Militärische Normübertretungen und Kriegführung: Österreichisch-ungarische Kriegsgräuel 1914“ ein. Der Vortrag bildete den Abschluss der von der Fakultät MES gemeinsam mit dem ÖKF organisierten Veranstaltungsreihe „Österreich-Ungarn 1914-2014“.
Prof. Überegger führte zunächst aus, dass es sich bei dem von ihm präsentierten Thema um ein relativ junges Forschungsfeld handeln würde, da bei der Erforschung von Kriegsgräueln lange Zeit die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs im Vordergrund gestanden wären. Erst in den 1990er Jahren seien auch die militärischen Normübertretungen des Ersten Weltkriegs in den Blickpunkt der Wissenschaft gerückt, wobei jedoch der thematische Focus zunächst auf dem Völkermord an den Armeniern sowie den Übergriffen des Deutschen Heeres in Belgien im Jahr 1914 gelegen wäre. Die von der k.u.k. Armee begangenen Kriegsverbrechen würden hingegen erst seit einigen Jahren wissenschaftlich aufgearbeitet werden, weshalb seine Ausführungen primär einen Bericht über den aktuellen Forschungsstand darstellen würden. Grundsätzlich, so Überegger, wären militärische Normübertretungen aus zwei Blickwinkeln zu analysieren: der quantitativen Perspektive (Welche Verbrechen werden begangen, wie groß ist deren Ausmaß?) und der qualitativen Perspektive (Wie kommt es zu den Gewalttaten, warum eskaliert die Gewalt?).
Aufgrund der Tatsache, dass an der Ost- bzw. Südostfront der Mittelmächte von Militärpersonen der Mittelmächte begangene Greueltaten nur selten thematisiert worden wären und die Opfer auch nur zum Teil Eingang in die offizielle Verluststatistik gefunden hätten, sei es jedoch schwierig, die Zahl all jener Fälle zu erfassen, in denen die Truppen gegen das Kriegsrecht verstoßen hatten. Die bisherigen, aufgrund der Analyse von Primärquellen erzielten Ergebnisse würden jedoch die Theorie stützen, das die Übergriffe deutscher Soldaten auf belgische Zivilisten im Jahr 1914 kein singuläres Element in der Geschichte des Ersten Weltkriegs darstellen und auch nicht mit einer spezifischen Neigung des deutschen Soldaten zu Gewalttaten zusammenhängen würden. Tatsächlich wäre es im Verlauf des Ersten Weltkriegs an allen Fronten zu Übergriffen beider Seiten auf die Zivilbevölkerung bzw. auf gegnerische Militärpersonen gekommen, so etwa auch in Serbien, in Galizien, der Bukowina sowie in Ostpreußen, wobei die Opferzahlen weit über jenen liegen dürften die in Belgien zu verzeichnen gewesen waren.
Noch schwieriger als die Quantifizierung der Opfer sei es jedoch, so Überegger, den Grund für die Übergriffe und Gewaltausbrüche zu finden. Im Wesentlichen ließen sich vier „Trigger“ für Gewaltakte beobachten: 1.) Entstehen einer „Vorwärtspanik“, 2.) Direkter Befehl eines Vorgesetzten, 3.) Übergang zur Politik der verbrannten Erde, 4.) Bestrafungs- oder Vergeltungsmaßnahmen. Zusätzlich sei zu berücksichtigen, ob und wie verschiedene weitere Faktoren (ideologische Indoktrinierung, Befehlslage, persönliche Kriegserfahrung, etc.) das Handeln des einzelnen Soldaten beeinflussen könnten. Grundsätzlich zeige gerade der Fall des österreichisch-ungarischen Feldzugs in Serbien im Jahr 1914 deutlich, wie ein Zusammenwirken mehrerer dieser Faktoren Gewaltexzesse zur Folge haben könnte. So hätten vor allem die Angst vor Partisanen und Spionen sowie die unklare Befehlslage dazu geführt, dass die Initiative in der Frage, wie mit verdächtigen Personen umgegangen werden sollte, auf die untere Truppenführung sowie die Truppen selbst übergegangen sei, welche diesen „Spielraum“ unterschiedlich genutzt hätten. Augenfällig sei darüber hinaus, dass sich viele Gewalttaten beim Vormarsch der Truppen ereignet hätten, wobei insbesondere die in engem Kontakt mit dem Feind stehenden Vorhuten besonders anfällig für Übergriffe gewesen wären. Die militärischen Kommandostellen hätten derartige Ereignisse vielfach zwar registriert, wären jedoch trotz entsprechender Befehle nicht in der Lage gewesen, die Gewalt einzudämmen.
Grundsätzlich sei der Behauptung zu widersprechen, die k.u.k. Armee habe am Balkan „einen geplanten Völkermord“ begangen. Gleichzeitig sei jedoch aufgrund der Quellenlage evident, dass es zu massiven Gewalttaten vor allem gegen die serbische und montenegrinische Zivilbevölkerung gekommen sei. Die Frage nach der genauen Zahl der Opfer sowie nach den Motiven der einzelnen Soldaten für ihr Handeln sei, so Überegger, Gegenstand weiterer Forschungen.
Dem Vortrag schloss sich eine rege Diskussion zwischen dem Vortragenden und dem Publikum an, wobei unter anderem die Frage nach der Ahndung von Kriegsverbrechen im 20. und 21. Jahrhundert erörtert wurde. Im Namen der Fakultät für Mitteleuropäische Studien sprach Dekan Prof. Dr. habil. Georg Kastner abschließend dem Österreichischen Kulturforum Budapest seinen Dank für die Finanzierung der Veranstaltungsreihe aus. Der Themenschwerpunkt „Österreich-Ungarn 1914-2014“ wird im November 2014 mit der internationalen Konferenz „Von Desintegration zu Integration? Österreich und Ungarn von der Monarchie zur Europäischen Union 1914 – 2014“ (11.11.-13.11.2014, AUB) fortgesetzt.