Am 6. und 7. April 2017 fand unter dem Titel „Menschen und ihre Biografien. Mitteleuropäische Lebenswege im Brennpunkt“ die 6. internationale und interdisziplinäre DoktorandInnentagung des Doktoratskollegs für Mitteleuropäische Geschichte an der Andrássy Universität Budapest statt. In einer angenehmen Atmosphäre tauschten sich DoktorandInnen von deutschen, österreichischen und ungarischen Forschungseinrichtungen zu den facettenreichen Herangehensweisen an mitteleuropäischen Biografien aus. Ihre Präsentationen und Überlegungen wurden von der wissenschaftlichen Leitung des Doktoratskollegs, gebildet aus Prof. Dieter Binder (Budapest/Graz) und Dr. Georg Kastner (Budapest/Graz) sowie von Dr. Ibolya Murber (Szombathely) kommentiert und diskutiert, wodurch die TeilnehmerInnen wertvolle Inputs und Impulse bekamen.
Den Auftakt der Tagung stellte eine Begrüßung durch Prof. Ellen Bos dar, Prorektorin für Forschung und Leiterin der Doktorschule an der AUB. Als Politologin hob sie den Paradigmenwechsel der 1980er Jahre hervor, das damit einhergehende Interesse der Politikwissenschaft für das Individuum als Akteur im politischen Prozess und somit die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Biografien. Anschließend stellten die VeranstalterInnen in ihrem Grußwort die Frage nach der Natur von Biografien und nach den theoretischen Grundlagen, die der Erstellung einer Biografie zugrunde liegen. Diese Problematik sollte dann im Laufe der Tagung in sechs Panels mit unterschiedlichen Schwerpunkten besprochen werden.
Um die TeilnehmerInnen und das Publikum in die Thematik einzuführen, bot Dr. habil. Ibolya Murber in ihrem Keynote Vortrag einen Überblick über die Herausforderungen der Moderne im 19. und 20. Jahrhundert in Mitteleuropa. Sie stellte das relative Gleichgewicht der ethnischen Vielfalt des Donauraumes innerhalb Österreich-Ungarns im 19. Jahrhundert der gesellschaftlichen Nivellierung im 20. Jahrhundert gegenüber und konkretisierte somit den historischen Rahmen für die Entfaltung der individuellen und kollektiven Biografien, die von den ReferntInnen präsentiert wurden.
Das erste Panel, eingeführt und moderiert von Dr. Richard Lein (AUB), bezog sich auf Adelsbiografien vom Zeitalter der Reformation bis ins 20. Jahrhundert. Béla Teleky (AUB) wandte sich den Biografien zweier Adeliger, die im 16. Jahrhundert die Reformation in Westungarn vorantrieben, zu. Thomas Nádasdy und Balthasar III. Batthyány waren zwei Magnaten, die die reformatorischen Lehren förderten und somit zur Etablierung des Protestantismus im Westen Ungarns und der Entwicklung von Kunst, Kultur und Bildung in ungarischer Sprache verhalfen. Kira Edelmayer (AUB) zeigte anhand der Biografie von Karl VI. Schwarzenberg, wie die historischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts im mitteleuropäischen Raum das Leben eines Adeligen prägten bzw. wie man sich nach der Abschaffung der Adelstitel in der neuen Ordnung positionieren konnte.
Das von Ágnes Körber moderierte zweite Panel rückte die Biografien von einzelnen Intellektuellen in den Vordergrund. Florian Martin Müller (Innsbruck) schilderte das Leben des Franziskanerpaters Innozenz Ploner im Spannungsfeld zwischen seiner geistlichen Existenz und seiner Tätigkeit als Archäologe. Martina Medolago (AUB) sprach über den Kunsthistoriker Jenö Lányi, dessen Biografie von zahlreichen Stationen, Sprachen und Zäsuren geprägt war und veranschaulichte, dass eine Biografie nicht nur aus Egodokumenten, sondern auch aus zahlreichen anderen Quellen rekonstruierbar ist. Die Frage nach dem Stellenwert Mitteleuropas und dessen Auswirkung auf den 100-jährig gewordenen italienischen Journalisten Giuseppe Prezzolini war Gegenstand des Vortrags von Sarah Majer (Berlin), die dadurch mitteleuropäische Einflüsse anhand des Beispiels des „kulturellen Irredentismus“ problematisierte.
Das Panel zum Thema der Architektenbiografien wurde von Stefanie Schuldt geleitet und beinhaltete zwei Präsentationen zu der quantitativen Erfassung von biografischen Daten und deren Auswertung. Anna-Victoria Bognár (Stuttgart) diskutierte die Vor- und Nachteile von quantitativen Methoden in der Biografieforschung anhand von Architektenbiografien der Frühen Neuzeit, während Silke Antje Kropf (AUB) die Schlüsselrolle des Netzes in der Erarbeitung der Biografie des Stararchitekten Marcel Breuer darstellte.
Der erste Tag der Konferenz endete mit der Präsentation des neu erschienenen Tagungsbandes der 5. DoktorandInnenkonferenz durch Prof. Binder und durch die Herausgeber Réka Szentiványi und Béla Teleky.
Dr. Orsolya Lénárt moderierte am nächsten Vormittag das Panel über Biografien von Literaten, in dem sich die Vortragenden den Lebenswegen dreier Schriftsteller aus Mittel- und Südosteuropa unterschiedlich näherten. Susanne Korbel (AUB) erzählte das Leben von Andre Singer (Andreas Ott) anhand der vier Erzählstile – Romanze, Satire, Komödie, Tragödie, wobei Dejana Kerošević (Regensburg) die Biografie des jugoslawischen Schriftstellers Danilo Kiš als „ethnische Seltenheit“ deutete. Roman Hutter (Wien) wandte sich dem siebenbürgisch-sächsischen Lyriker Oskar Pastior zu und hob den Einfluss des kulturellen Kalten Krieges zwischen „westlichen“ und „östlichen“ Kultureinrichtungen auf dessen Biografie hervor.
Das vorletzte Panel widmete sich zweier politischer Biografien und wurde von Dr. Christina Griessler geleitet. Antonia Schilling (Freiburg) führte eine Frauenbiografie der Tagung ein und präsentierte Helene Weber als emblematische Politikerin ihrer Zeit. Réka Szentiványi (AUB) sprach eine aktuelle und akute Thematik an, indem sie sich mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und dem Wesen der politischen Polarisierung in Ungarn auseinandersetzte.
Das von Dr. Krisztina Slachta moderierte letzte Panel der Tagung thematisierte zwei kollektive Biografien und die methodischen Schwierigkeiten, die diese Gattung hervorruft. Georg Gänser (Wien) schilderte die Geschichte einer Gruppe von illegalen NationalsozialistInnen und ihrer Drucktätigkeit in Österreich und Beáta Márkus (AUB) sprach über die Problematik der Erinnerung an die Ungarndeutschen und der Darstellung ihrer Deportation in die Sowjetunion als kollektives Erlebnis nach 1990.
In der sehr anregenden und spannenden Schlussbemerkung wurden die methodischen Schwierigkeiten, mit denen sich Biografen konfrontieren, betont und den jungen WissenschaftlerInnen Distanz und vorsichtiges Arbeiten angeraten.
Das Thema mitteleuropäischer Lebenswege brachte junge WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Forschungszweigen und Einrichtungen nach Budapest zu der 6. Tagung des Doktoratskollegs für Mitteleuropäische Geschichte der AUB. Wie in den Jahren zuvor, erreichte auch diese Konferenz ihre beiden Ziele, nämlich als Forum für NachwuchswissenschaftlerInnen zu fungieren sowie den OrganisatorInnen und den ReferentInnen einen Rahmen zu bieten, in dem sie für ihre Forschungsvorhaben durch KollegInnen aber auch durch ExpertInnen in den jeweiligen Bereichen wertvolle Anregungen bekamen.
Text: Dr. Andra-Octavia Drăghiciu