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Konferenz zu Opfernarrativen in der Vergangenheit und in der Gegenwart

Infolge der in den Kulturwissenschaften neulich beobachtbaren ethischen Wende gelangte die Problematik des Opfers in den Mittelpunkt des literarischen, historischen, theologischen, juridisch-kriminologischen, soziologischen und politikwissenschaftlichen Interesses. Womit ist dieses Vordringen zu erklären und was macht dieses Thema des Opfers so attraktiv und dennoch fatal für die Kultur? Zu diesen Fragestellungen fand die internationale Konferenz zum Thema "Opfernarrative in der Vergangenheit und in der Gegenwart" vom 4. bis 5. Oktober 2013 in der Bibliothek des Österreichischen Kulturforums an der Andrássy Universität Budapest (AUB) statt.

Die Motive der Opferdiskurse sind wohl sehr abwechslungsreich, und sie variieren sich von Kultur zu Kultur, bzw. von Disziplin zu Disziplin, trotzdem hängen sie an einem gemeinsamen Gedanken- und Gefühlsmuster. Dieser Prozess steht in erster Linie damit in Zusammenhang, dass nicht mehr der Held, sondern das Opfer im Mittelpunkt der Erinnerungskultur steht. Dieser von der Heroisierung der Geschichte bis zur Viktimisierung der Geschichte reichende Paradigmenwechsel ist ein allgemeiner, meist in Westeuropa wirkender Trend, der ziemlich willkürlich seinen Gegenstand wählt. Die semantische und kulturelle Verbreitung des Leides und der Gewalt, bzw. die immer stärkere Säkularisierung des Opferbegriffes führten dazu, dass das Opfersein eine für alle erreichbare Identifizierungsmöglichkeit bot, und nach einer Zeit auch die Augenzeugen und die Täter erreichte. Es steht außer Zweifel, dass die heutigen soziologischen, historischen, politischen, etc. Diskurse diesen Paradigmenwechsel plausibel befolgen. In den heutigen postheroischen Gesellschaften werden ebenso den Helden keine Denkmäler gesetzt, wie die Werke über die „großen“ Menschen und „großen“ Taten verschwinden. Viele Diskurse der Gegenwart werden eindeutig vom Opferdiskurs dominiert, dessen Brennpunkt in Westeuropa in erster Linie der Zweite Weltkrieg und die Shoah sind. Der Opferdiskurs verdichtet sich in Ungarn im Sinnbild von Trianon – wie früher im Sinnbild von Mohács, Világos oder Arad –, das auch in der jetzigen Geschichtsdeutung einen besonderen Akzent erhält. In diesem Hintergrund ist die Bedeutungsverschiebung wahrzunehmen, die sich auch selbst im Begriff des Opfers vollzog, und infolge deren sich der Akzent von der Bedeutung Aufopferung und Hingabe des Begriffes sacrifice auf die Bedeutung Erleiden des Begriffes victim verschob.

Diese Opferpositionen sind im Allgemeinen geschichtslos und imaginiert, weil diese Diskurse fast nie von den tatsächlichen Opfern geführt werden. Der Opferbegriff kann nämlich ohne Weiteres auf Konstellationen ausgedehnt werden, bei denen das Individuum oder das Kollektiv mit negativen oder für negativ gehaltenen Wirkungen konfrontiert werden. Man kann diese Konstellationen mit Gefühlen aufladen, und fast ohne Grenzen auf unpersönliche Institutionen und Strukturen ausdehnen. Wenn man diese Narrative politisch braucht oder missbraucht, dann kann sie leicht zur Ideologie radikalisiert werden, die die politische Kultur beeinflusst. Die Opferrolle bietet zweifellos eine angenehme und widerspruchslose Identifizierungsmöglichkeit, anhand deren die Klage zur Anklage verwandelt werden kann. Es bedeutet gleichzeitig, dass man dadurch die Deutungsmacht übernimmt, die in diesem Fall mit dem Bedürfnis und Bewusstsein der moralischen Überlegenheit auftritt. Es ist vielleicht gar kein Zufall, dass eben die Nationen am meisten an der Opferrolle festhalten, für die nach dem Verlieren der ruhmreichen Vergangenheit und der Macht nichts Anderes blieb, als der Opferpathos und die daraus stammende moralische Überlegenheit. Wenn jemand in dessen Namen auftreten kann, dann werden die daraus Ausgeschlossenen folgerichtig nur Schuldige. Wenn die politischen Gemeinschaften nach dieser Logik zweigeteilt werden, dann gibt es nur Täter und Opfer, Schuldige und Unschuldige, aber eine derartige Polarisierung ist nirgendwo kennzeichnend. Höchstens sind die Machtverhältnisse ungleichmäßig aufgeteilt, sie sind aber in den seltensten Fällen in Formen zu absolutisieren, wie die Täter-Opfer-Dichotomie sie voraussetzt. Eine der schwersten Folgen von dieser Betrachtungsweise ist es, dass sie die kritische oder selbstkritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, und dadurch auch die Überschreitung der Opfernarrativen verhindert. Es ist vielleicht gar nicht überraschend, wie dauerhaft diese Einstellungen auch in einer postdiktatorischen Zeit die politischen Mentalitäten bestimmen können, und dadurch wie anhaltend sie verhindern können, der Vergangenheit gegenüberzutreten und sich in sie zu ergeben. Im Rahmen der zweitägigen Tagung wurden die Begriffsveränderungen, die multidisziplinären – literarischen, historischen, theologischen, juridisch-kriminologischen, soziologischen und politikwissenschaftlichen – Bezüge des Opfers, bzw. die Charakteristika der österreichischen und der ungarischen nationalen Opfernarrative untersucht. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, Nachwuchswissenschaftler aus beiden Länder einzubeziehen.

Heidemarie Uhl (Uni Wien) hat in ihrem Vortrag: „Holocaust und Gulag: konkurrierende Opfernarrative des europäischen Gedächtnisses den zeitlichen Verlauf der Transformation aus der Sicht der Opernarrativen” vorgestellt und resümiert: „Die europäische Integration wird nur gelingen, wenn es ein gemeinsames europäisches Gedächtnis gibt“. In seinen Ausführungen behandelte László Levente Balog (Uni Debrecen) die „Wandlungen in der Opfernarrative der ungarischen Erinnerungskultur“. In seinem Vortrag fokussierte Balog an Trianon, das die ungarische Opfernarrative aus einer Opferperspektive repräsentiert. Die Diskussionsteilnehmer kritisierten die opferromantische Einstellung innerhalb der ungarischen Politik, welche die selbstreflexive und selbstkritische Erinnerung verhindert. Andrea Horváth (Uni Debrecen) brachte den Interessenten die Romane von Marlene Streeruwitz mit, in denen sie die Elemente des Neuliberalismus aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive untersuchte. Ihr Fazit zog Horváth mit einem Zitat von Streeruwitz : ”Alles endet, wo es beginnt: in der Sprache”. Eszter Pabis (Uni Debrecen) stellte in ihrem Vortrag die Formen und Wandlungen des deutschen Täternarrativs in Familien- und Generationenromanen nach der Jahrtausendwende vor. Innerhalb der Opferdiskurse analysierte Pabis das Auftreten von drei Opferkategorien (Heldenopfer, leidendes und empatisches Opfer) in den untersuchten Romanen. Ina Markova (Uni Wien) beschäftigte sich mit den „visuellen Opfernarrativen in Österreich nach 1945”. Im Fokus ihrer Präsentation standen die Kontinuitäten und Zäsuren im Bildgedächtnis der Zweiten Republik und der NS-Zeit. Melani Barlai (netPOL/AUB) skizzierte die ´56-er Erinnerungsmomente und –objekte seit 2002 auf. Dabei analysierte sie die materiellen, die gesellschaftlichen und die politischen Erscheinungsformen des Erinnerns.

Als erster von zwei Referenten am zweiten Tag der Konferenz sprach Dr. Sándor Fazakas (Debrecen) in seinem Vortrag „Opfer und schuldig zugleich? Schuldverstrickungen der Kirche(n) in historischen und sozialen Interaktionszusammenhang” u.a. über die Frage nach der historischen Schuld und über die Verortung der Schuldfrage. Da die Kirchen soziale Teilsysteme waren, ist es nicht einfach, der Schuldfrage nachzugehen. Wer trägt die Schuld, die Einzelperson oder die ganze Einheit? Eine Kollektivschuldthese oder Leidenskollektive ist im politischen Raum umstritten.

Prof. Anton Pelinka (Innsbruck-Budapest) erläuterte in seinem Vortrag „Opfernarrative – Ungarn und Österreich im Vergleich” die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der nationalen Opfernarrative in Österreich und in Ungarn und der segregierten Opfernarrtive innerhalb der beiden Staaten. Während in Ungarn durch die nationale Opfernarrative Kollektive gebildet werden,  gibt es in Österreich nur schwache Artifizierungsversuche, Kollektive durch nationale Opfernarrative zu schaffen. Im Gegensatz dazu weist die zweite Art der Opfernarrative in beiden Ländern Gemeinsamkeiten auf.

Veranstaltet wurde die Konferenz von der Österreich-Bibliothek Debrecen, dem Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Universität Debrecen, dem Institut für Kulturwissenschaften und der Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.

Text: Melani Barlai, Laszló Levente Balog, Zsófia Harsányi

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