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Gewinnt tatsächlich Kamala Harris oder doch Donald Trump die Präsidentschaftswahlen? Allan Lichtmans Prognose revisited
Allan Lichtman prognostiziert basierend auf einer historisch abgesicherten Faktorenanalyse seit der Wahl von Ronald Reagan 1984 alle Ergebnisse der amerikanischen Präsidentschaftswahlen richtig, bis auf die Wahl von George W. Busch 2000.

Für November 2024 lautet seine Vorhersage für den Wahlsieg: Kamala Harris wird US-Präsidentin. Liegt er dieses Mal ausnahmsweise wieder falsch? Der Interpretationsspielraum seiner Faktoren beinhaltet dieses Mal mehr Unsicherheiten, als er glaubt.

Lichtman ist sich wieder sicher: Kamala Harris wird 47. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (Lichtman 2024). Auf der Basis einer Auswertung der Wahlen des US-Präsidenten seit 1860 hat der Historiker gemeinsam mit dem russischen Geophysiker Vladimir Keilis-Borok 1981 ein Modell mit 13 Faktoren entwickelt, mit dem er das Wahlergebnis sicherer vorauszusagen meint als es durch Umfrageergebnisse möglich ist. Lichtman spricht von „13 Keys to the White House“ (Lichtman & Keilis-Borok, 1981, Lichtman 2020).

Das Prognosemodell basiert auf dem Grundgedanken, dass der Wahlerfolg kaum durch Wahlkampagnen beeinflusst wird, sondern vor allem von der politischen und wirtschaftlichen Bilanz der amtierenden Regierung abhängt, die vom Wähler der regierenden Partei gutgeschrieben oder angekreidet wird. Im Fokus stehen deswegen nachrangig die Kandidaten und primär die vorangegangene Präsidentschaft und deren Partei. Im Duktus seiner Metapher von den dreizehn Schlüsseln zum Weißen Haus ist es deshalb entscheidend, dass die Partei des Amtsinhabers nicht mehr als fünf Schlüssel verlieren darf. Verliert sie einen sechsten Schlüssel, geht das Weiße Haus an den Kandidaten der oppositionellen Partei.

Seit der Veröffentlichung des Modells im Jahr 1981 (Lichtman & Keilis-Borok, 1981) hat Lichtman fast alle Präsidentschaftswahlen korrekt vorhergesagt. Eine Ausnahme war die Wahl im Jahr 2000. Lichtman hatte den demokratischen Vizepräsidenten von Bill Clinton, Al Gore, als zukünftigen Präsidenten vorhergesagt. Präsident wurde aber George W. Busch. Lichtman lässt diesen Fehler nicht gelten, weil er davon ausgeht, dass der Wahlausgang durch die Entscheidung des Supreme Courts über die Nachzählung von Stimmen in Florida und damit über die Besetzung des Electoral Colleges verzerrt wurde. Allerdings erkennt er eine zunehmende Schwierigkeit bei seiner Vorhersagemethode an, da das landesweite Durchschnittsergebnis von dem relevanten Ergebnis des Wahlmännergremiums 2000 und 2016 abwich. 2000 verlor Al Gore bei den Wahlmännerstimmen, gewann aber landesweit. Bei Trump war es 2016 umgekehrt. Hier liegt eine generelle Schwäche des Modells, die auch dieses Jahr wieder zum Tragen kommen könnte (Lichtman 2020). Aber dieses Mal scheint auch die qualitative Einschätzung seiner Bewertung, welche Schlüssel verloren gingen, unsicher (Lichtman 2024).

Bei den 13 „Schlüsseln“, auf die sich das Modell stützt, handelt es sich um Fragen, die mit ja oder nein beantwortet werden können. Ein nein bedeutet den Verlust eines Schlüssels. Wenn sechs oder mehr dieser Fragen negativ beantwortet und deshalb die Schlüssel verloren gehen, verliert laut Lichtman die amtierende Partei die Wahl. Im Mittelpunkt steht die Position der Partei und die wirtschaftliche und außenpolitische Lage während der gegenwärtigen Amtszeit. Nachrangig kommt die Persönlichkeit des Amtsinhabers und der Kandidaten zum Zuge. Die Schlüssel im Einzelnen (Lichtman 2020):

  1. Mandat der Partei: Bei den Zwischenwahlen gewann die Partei des amtierenden Präsidenten Sitze im Repräsentantenhaus hinzu. Trend und Stimmung sprechen für die Regierungspartei.
  2. Kein starker Konkurrent bei den Vorwahlen: Bei den Vorwahlen der Partei des amtierenden Präsidenten gab es keinen ernsthaften Wettbewerb. Der Kandidat hat die volle Unterstützung der Partei.
  3. Amtsinhaberbonus: Der amtierende Präsident tritt zur Wiederwahl an.
  4. Dritte Partei fehlt: Es gibt keinen starken unabhängigen Kandidaten oder Kandidaten einer dritten Partei.
  5. Kurzfristige Wirtschaft positiv: Es gab keinen wirtschaftlichen Abschwung bis zum Ende der Amtsperiode.
  6. Langfristige Wirtschaft positiv: Die Wirtschaft wuchs während der Amtszeit des Präsidenten im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Amtszeiten.
  7. Politikänderung vorgenommen: In der vorangegangenen Amtsperiode gab es einen signifikanten Wechsel in der Regierungspolitik.
  8. Keine großen Unruhen: Die soziale Lage war weitgehend stabil. Es gab keine anhaltenden sozialen Unruhen oder Proteste.
  9. Kein großer Skandal: Der amtierende Präsident war in keinen großen Skandal verwickelt.
  10. Erfolge in der Außenpolitik: Der amtierende Präsident kann einen großen Erfolg in der Außenpolitik oder bei der Kriegsführung vorweisen.
  11. Kein Misserfolg in der Außenpolitik: Der amtierende Präsident ist für keinen gravierenden Misserfolg in der Außenpolitik oder auf militärischem Gebiet verantwortlich.
  12. Großes Charisma des Kandidaten der regierenden Partei: Der Amtsinhaber, der wieder antritt oder der Kandidat der Partei des Amtsinhabers gilt unbestritten als charismatisch oder ist ein Nationalheld.
  13. Kein Charisma des Herausforderers: Der Kandidat der gegnerischen Partei ist nicht charismatisch oder ein Nationalheld.

Lichtman beantwortet aktuell acht Fragen mit ja und vier bis fünf Fragen mit nein (Lichtman 2024). Kamala Harris wäre damit sicher die Siegerin der Präsidentschaftswahlen. Die Demokraten haben nach dem Urteil von Lichtman drei Schlüssel sicher verloren. Die Zwischenwahlen gingen schlecht aus, der Amtsinhaber tritt nicht mehr an und Kamala Harris gilt nicht als charismatisch. Etwas vorsichtig ist Lichtman bei der Bewertung der außenpolitischen Situation. In Gaza scheint es aus seiner Sicht einen Misserfolg zu geben, die Verteidigung der Ukraine wertet er hingegen als Erfolg. Aber selbst, wenn man hier zwei Schlüssel verloren sieht, weil man die Außenpolitik durchweg negativ bewertet, wären maximal fünf Schlüssel nicht mehr in der Hand der Regierungspartei. Das Weiße Haus könnte dann verteidigt werden.

Allerdings scheint die Einschätzung der Außenpolitik in ihrer positiven Bewertung tatsächlich fraglich. Der Abzug aus Afghanistan war notwendig, aber in der Durchführung ein Fiasko. Der Schaden, den das amerikanische Abschreckungspotential dadurch nahm, war so groß, dass sowohl Russland wie die Hamas einen Angriff auf die Ukraine bzw. Israel für aussichtsreich erachteten. Kein laufender Krieg wurde von der US-Administration oder ihren Verbündeten gewonnen. Die außenpolitischen Schlüssel dürften tatsächlich verloren gegangen sein. Damit wäre aber noch nicht das Weiße Haus verloren. Denn dadurch wären erst fünf Fragen negativ beantwortet und die Kandidatin der regierenden Demokraten die neue Präsidentin.

Einige der weiteren Schlüssel sind auch auf den zweiten kritischen Blick sicher in der Hand der Demokratin. Die wirtschaftliche Stimmung mag inflationsbedingt zum Teil schlecht sein, aber die Daten, auf die Lichtman sich stützt, geben ihm recht. Wenn es nicht an der Stimmung, sondern an der Statistik liegt, dann sind die beiden Schlüssel sicher in der Hand der Demokraten. Der klimapolitische Inflation Reduction Act war ein signifikanter Politikwechsel. Die Kandidatur von Robert F. Kennedy Jr. war nicht besonders aussichtsreich und er zog sich zurück. Damit gibt es auch keinen starken dritten Kandidaten. Vier Schlüssel wären damit unstrittig in der Hand der Demokratin Harris verblieben.

Bei den weiteren Schlüsseln bleiben aber Fragen. Soziale Unruhen blieben während der Präsidentschaft von Joe Biden unter der Signifikanzschwelle. Aber es bleibt doch ein Fragezeichen bei diesem Schlüssel. Bidens Erklärung zum Wahlsieger war von der Erstürmung des Kapitols durch Trump-Sympathisanten überschattet. Der 6. Januar 2021 ging als ein historisches Datum sozialer Unruhen in die amerikanische Geschichte ein. Gerichtsurteile gegen die Beteiligten begleiteten die Amtszeit. Dass dieser Anfang von Bidens Präsidentschaft gar nicht in die Wertung einfloss, hinterlässt zumindest eine Unsicherheit, auch wenn die Unruhen nicht direkt in seine Amtszeit fallen.

Noch spannender als am Beginn der Amtszeit von Joe Biden wird es bei der Bewertung ihres Endes. Kein Präsident schied so kurzfristig aus dem Rennen um eine zweite Amtszeit aus. Drei Schlüssel könnten davon betroffen sein. Der Grund für seinen Rücktritt von der Kandidatur lag in offensichtlichen physischen und mentalen Alterserscheinungen, die seine Amtszeit schon länger skandalös überschatteten. Lange verhielt sich Biden diesen Vorhaltungen gegenüber uneinsichtig, blieb im Amt und betrieb hartnäckig seine Kandidatur. Skandalisiert wurde dieses Verhalten schon bevor er seine Kandidatur bekannt gab. Mit dem Coup seines Rückzugs nach einem Covidwochenende am 21. Juli 2024 lief alles ganz schnell auf Vizepräsidentin Kamala Harris zu, die zuvor noch als zu blass galt, um sich als Alternative aufzudrängen. Biden änderte seine Haltung, unterstützte seitdem Harris. Aber lag hier nicht doch ein Skandal seiner Amtszeit vor? Damit wäre nach Lichtman der sechste Schlüssel verloren und Trump wieder im Weißen Haus.

Trump ist sicher kein nationaler Held oder jenseits seines engen Anhängerkreises eine unbestrittene charismatische Führungspersönlichkeit. Den Schlüssel hinsichtlich eines charismatischen Herausforderers sollten die Demokraten also behalten haben. Aber es gab da doch diesen einen Moment, das Attentat vom 13. Juli 2024. Hier entstanden ikonographische Bilder von Donald Trump in Heldenpose, deren Eindruck im Gegensatz zur Gebrechlichkeit von Joe Biden so stark waren, dass Biden sich keine zehn Tage später zum Verzicht auf seine Kandidatur durchrang. Der Wahlsieg schien für Trump in dieser kurzen Zeitspanne zwischen dem Attentat auf ihn und dem Rücktritt Bidens von seiner Kandidatur sicher. Allerdings machte der Augenblick noch keinen unbestrittenen Helden aus Trump. Der schnelle Wechsel hat den charismatischen Moment zügig überspielt. Der Schlüssel blieb in der Hand der Demokraten. Doch der ikonische Augenblick unterstrich doch die Tragweite des skandalösen Festhaltens eines vom Alter gezeichneten Mannes an seiner Kandidatur. Charismatischer Moment und skandalöser Altersstarrsinn müssten in Lichtmans Matrix eine Berücksichtigung finden und zumindest etwas ausschlagen.

Diese Faktorenkombination hatte schließlich noch einen signifikanten Einfluss auf einen weiteren Schlüssel. Durch den späten Wechsel von Amtsinhaber zur Vizepräsidentin als Kandidatin fiel das große Schaulaufen der Primaries aus. Harris konnte sich die Kandidatur durch das kurzfristige Überraschungsmoment ohne Herausforderer sichern. Die Partei schloss sich ganz schnell hinter ihrer Kandidatur zusammen. Lichtman wertet deswegen diesen Schlüssel als nicht verloren. Doch genau genommen fällt diese ungewöhnliche Bestimmung einer Nachfolgekandidatin völlig aus dem Rahmen des historischen Musters. Die Partei steht nicht hinter Harris, weil alle Gegenkandidaten in den Vorwahlen keine Chance gegen sie hatten, sondern weil eine zuvor als relativ schwach angesehene Vizepräsidentin die Gunst der Stunde für sich zu nutzen verstand. Die Demokraten haben diesen Schlüssel nicht verloren. Aber vielleicht ist die Situation so ungewöhnlich, dass dieses Mal der Schlüssel schlicht nicht passt? Es gäbe bei diesen Wahlen dann keine dreizehn, sondern nur zwölf Schlüssel.

Wenn man die Außenpolitik der Biden-Administration kritisch sieht, dann wären fünf sicher verloren; Lichtman ginge hier noch mit. Der Kipppunkt ist erst mit einem weiteren verlorenen Schlüssel erreicht. Der sechste Schlüssel könnte bereits am 6. Januar 2021 verloren gegangen sein. Außerdem lassen sich Altersschwäche und -starrsinn auch deswegen als Skandal werten, weil sie so augenfällig waren, dass man dem Präsidenten unter dem Eindruck des charismatischen Moments von Trump in der Reaktion auf das Attentat vom 13. Juli 2024 schließlich am 21. Juli 2024 den Rückzug von der Kandidatur nahelegen konnte. Diese Gemengelage spricht für den Verlust eines Schlüssels. Am Anfang und am Beginn der Amtszeit könnten zwei Schlüssel verloren gegangen sein. Damit wären nicht nur fünf, sondern vielleicht sogar sieben Schlüssel verloren.

Lichtmans geniales Analyseraster hat einen Interpretationsspielraum. Er scheint dieses Mal breiter zu sein, als Lichtman selbst glaubt. Es bleiben also noch ein paar spannende Tage.

Mariano Barbato

Lichtman, Alan und Vladimi Keilis-Borok. 1981. Pattern Recognition Applied to Presidential Elections in the United States, 18601980: The Role of Integral Social, Economic, and Political Traits. Proceedings of the National Academy of Sciences, 78(11), pp.7230-7234.

Lichtman, Alan. 2020. Predicting the Next President: The Keys to the White House 2020. Lanham: Rowman & Littlefield.

Lichtman, Alan. 2024. Lichtman’s 2024 Presidential Prediction / Lichtman Live #72 [Online]. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=okYUg_Dx1iU

 

 

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