Die Sommeruniversität, an der 35 Studierende aus zwölf verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas sowie Zentralasiens teilnahmen, wurde vom Lehrstuhl für internationale und europäische Politik, Verwaltungswissenschaft (Prof. Dr. Hendrik Hansen, Dipl. Kulturw. Tim Kraski, Lic., M.A.) in Kooperation mit dem Germanistischen Institut der Eötvös Lóránd Universität (Dr. Verena Vortisch) organisiert und zielte darauf ab, sich der totalitären Vergangenheit der mittel- und osteuropäischen Länder und der kontroversen Erinnerung an diese Vergangenheit interdisziplinär anzunähern. Die übergeordnete Frage „Gibt es eine transnationale europäische Erinnerung?“ bzw. „Kann und soll es eine transnationale europäische Erinnerung geben?“ wurde sowohl aus der Perspektive der Politikwissenschaft als auch der Literaturwissenschaft beleuchtet und der Versuch unternommen, beide disziplinären Herangehensweisen miteinander zu verbinden.
Inhaltlich gliederte sich die Sommeruniversität in drei Teile. Im ersten Teil wurden nationalsozialistische und kommunistische Diktaturen als Gegenstand des Erinnerns behandelt. Der zweite Teil konzentrierte sich auf nationale Erinnerungskulturen, während der dritte Teil sich mit der transnationalen Erinnerungskultur in Mittel- und Osteuropa befasste. Den drei Teilen vorangestellt war ein Eröffnungsabend, auf dem der polnische Journalist und Publizist Adam Krzemiński über das Thema „Ostmitteleuropa 1944-1989 und danach: Unsere namenlose Revolutionen“ referierte. Weiterhin wurde im Rahmen dieses Abends die Ausstellung „Polen und Deutsche – Geschichte eines Dialogs“ eröffnet, die während der Sommeruni-Woche an der AUB zu sehen war.
Im ersten Teil der Sommeruniversität konnten die TeilnehmerInnen an Arbeitsgruppen von Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig (Universität Passau) und Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll (TU Chemnitz) teilnehmen. In Prof. Zehnpfennigs Arbeitsgruppe wurde über literarische Darstellungen ein Zugang zu Opfer- und Täter-Perspektiven auf die Verbrechen totalitärer Diktaturen gesucht. Die Lektüre von Ausschnitten aus Werken wie Wassili Grossmans „Alles Fließt“ oder Jonathan Littells „Die Wohlgesinnten“ ließ das (Innen)Leben von Opfern und Tätern sehr plastisch werden und zeigte, dass Literatur es vermag, zeitliche aber auch örtlich-kulturelle Distanzen zu verringern. Prof. Krolls Arbeitsgruppe konzentrierte sich u. a. auf begriffliche und historische Grundlagen. So wurden die Ideologie, das Herrschaftssystem und die Ausbreitung der nationalsozialistischen und kommunistischen Diktaturen in Europa sowie die Konzepte der Erinnerungsorte (Pierre Nora) und des kollektiven Gedächtnisses (Aleida Assmann) behandelt. In Fallstudien stellten die TeilnehmerInnen dar, wie in ihren Herkunftsländern an die totalitäre Vergangenheit erinnert wird.
Die beispielhafte Behandlung nationaler Erinnerungskulturen stand auch im zweiten Teil der Sommeruniversität im Fokus, in dem die TeilnehmerInnen zwischen drei Arbeitsgruppen wählen konnten. Prof. Ines Geipel (Hochschule für Schauspielkunst Berlin) behandelte in ihrer Arbeitsgruppe „Gefühlserbschaften der SED-Diktatur im Umbruch“ und thematisierte dabei u. a. die Frage, wie sich die Erinnerung zwischen verschiedenen Generationen wandelt und inwiefern die „Schweigegesellschaft“ der DDR in Zusammenhang mit aktuellen politischen Entwicklungen wie dem Aufstreben von AfD und PEGIDA steht. Die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Catherine Horel (CNRS, SIRICE/Universität Paris I) setzte sich mit dem Gedächtnis der beiden Totalitarismen in Ungarn auseinander. Behandelt wurden dabei u. a. die besondere Stellung des Kommunismus in der ungarischen Erinnerungspolitik, das Phänomen der Instrumentalisierung der Geschichte sowie die Frage der Eigen- und Fremdverantwortung für Verbrechen, die in den Diktaturen begangen wurden. Adam Krzemiński vertiefte in seiner Arbeitsgruppe die Erinnerungskulturen Deutschlands und Polens und die deutsch-polnische Versöhnung, wobei er insbesondere betonte, wie wichtig gegenseitige Empathie und gegenseitiges Verstehen für derartige Prozesse sei.
Im dritten Teil der Sommeruniversität wurde das Erfordernis der gegenseitigen Empathie von PD Dr. Heidemarie Uhl (Österreichische Akademie der Wissenschaften) wieder aufgegriffen. Dr. Uhl argumentierte, dass gegenseitige Empathie die zentrale Voraussetzung für ein transnationales bzw. europäisches Erinnern sei. In ihrer Arbeitsgruppe versuchte sie unter dem Thema „Orte und Konzepte des transnationalen Gedächtnisses“ durch ein starkes Einbinden der TeilnehmerInnen mit ihren jeweils unterschiedlichen Erfahrungshintergründen die Basis für solche Prozesse der Empathie und des Verstehens zu legen. Univ-Doz. Dr. Éva Kovács (Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien/Institut für Soziologie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften) zielte in ihrer Arbeitsgruppe mit dem Themenschwerpunkt „Das Gedächtnis der Völkermorde in Europa“ in eine ähnliche Richtung und führte u. a. eine Simulation durch, in deren Rahmen sich die TeilnehmerInnen in Opfer- und Täterrollen hineinversetzen konnten. Prof. Dr. Manfred Weinberg (Karls-Universität Prag) fokussierte aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive primär die Schwierigkeiten und Herausforderungen eines transnationalen Erinnerns, die sich bspw. in der Subjektivität und Heterogenität des je Erinnerten / Dargestellten zeigen.
Abgerundet wurde das Programm der Sommeruniversität durch eine erinnerungskulturelle Stadtführung, einen Ausflug ins Terrorhaus sowie abendliche Veranstaltungen im Goethe-Institut und der Deutschen Botschaft Budapest. Im Goethe Institut las Léda Forgó aus ihrem Roman „Der Körper meines Bruders“, der im Kontext des ungarischen Volksaufstandes von 1956 angesiedelt ist, und sprach nach der Lesung u. a. darüber, wie es war, über eine Epoche zu schreiben, die man selbst nicht erlebt hat. In der Deutschen Botschaft Budapest hatten die Sommeruni-TeilnehmerInnen die Gelegenheit, mit Éva Fahidi ins Gespräch zu kommen. Die neunzigjährige Holocaust-Überlebende, die als einzige ihrer Familie Auschwitz-Birkenau überlebte, schilderte sehr eindrücklich ihre persönliche Geschichte. Besonderen Eindruck hinterließ, dass Éva Fahidi ihr Leben und, wie sie sagte „ihren Holocaust“ seit einem Jahr auch im Rahmen von regelmäßigen Tanz-Theater-Aufführungen im Budapester Vígszínház tanzt und erzählt.
Während der Sommeruniversität fand ein intensiver Austausch zwischen den TeilnehmerInnen statt, die z. T. bis tief in die Nacht diskutierten und sich über Fragen der Einheit und Vielfalt der europäischen Erinnerungskultur(en), über die Frage, was Literatur(wissenschaft) und Politik(wissenschaft) in diesem Bereich voneinander „lernen“ können und über die Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Erinnerungskultur austauschten. Neben allem Inhaltlichen war dieser direkte persönliche Austausch im Sinne der von PD Dr. Uhl und Adam Krzemiński betonten Prozesse der Empathie und des gegenseitigen Verstehens sicherlich eines der wichtigsten Elemente der Sommeruniversität.
Gefördert und unterstützt wurde die Sommeruniversität vom Deutschen Akademischen Austauschdienst, der Deutschen Botschaft Budapest, dem Goethe Institut, der Polnischen Botschaft Budapest, dem Polnischen Institut sowie dem Österreichischen Kulturforum Budapest.
Text: Tim Kraski