Am 6. Und 7. Oktober 2014 fand an der Andrássy Universität Budapest die Konferenz "Der Erste Weltkrieg als Katalysator politischen und juristischen Denkens" statt. Als europäische Universität nahm die AUB den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges zum Anlass, eine Reihe von internationalen Veranstaltungen zum Gedenken an dieses die Geschichte des 20. Jahrhunderts prägende Ereignis zu organisieren.
Die dritte Konferenz in der Veranstaltungsreihe widmete sich der Katalysatorfunktion, die die Erfahrung des Ersten Weltkriegs sowohl in Deutschland als auch in den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas hatte. Im Rahmen der Tagung wurden die unterschiedlichen Wirkungen der Kriegserfahrung auf die zentralen Strömungen des politischen, staatsrechtlichen und sozialökonomischen Denkens untersucht und länderübergreifend verglichen. Die Konferenz wurde großzügig vom Auswärtigen Amt und dem Institut Français Budapest unterstützt, wofür wir uns an dieser Stelle noch einmal herzlich bedanken möchten.
Während der Eröffnung der Konferenz am 6.10. durch die Organisatoren Prof. Dr. Michael Anderheiden und Prof. Dr. Hendrik Hansen wurde noch einmal deutlich gemacht, dass der Fokus der Konferenz nicht der Erste Weltkriegs als Negativfolie für den Umgang mit Konflikten sein solle, sondern vielmehr die Bedeutung dieses Ereignisses als Katalysator für das politische und juristische Denken.
Im ersten Panel des Tages zum Thema "Modernisierung und konservative Reaktion in Ungarn" stellte als erster Referent Dr. Zoltán Fónagy (Ungarische Akademie der Wissenschaften) einige Aspekte der Modernisierung europäischer Gesellschaften im Zuge des Ersten Weltkrieges vor, wobei er seinen Fokus vorwiegend auf Ungarn richtete. Dabei führte er aus, wie der Krieg die europäischen Gesellschaften zum Beispiel im Bereich der Gesundheits- und Sozialfürsorge umgestaltete und soziale Hierarchien und Geschlechterrollen berührte. Der zweite Redner im ersten Panel, der ungarische Geschichtswissenschaftler Dr. Krisztián Ungváry, trug zu dem Thema "Politische Strömungen und Auseinandersetzungen in Ungarn unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges" vor und referierte dabei im Detail über das Erstarken von Antisemitismus, Turanismus und antiwestlichen Strömungen in Ungarn vor und nach dem Ersten Weltkrieg.
Nach diesem Blick auf die Situation in Ungarn ging es im zweiten Panel um "Modernisierung, konservative Reaktion und Sozialdemokratie in Deutschland". Im ersten Vortrag sprach Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll (Technische Universität Chemnitz) zu "Modernisierung und Reaktion. Zur Bedeutung des Ersten Weltkriegs für Theorie und Praxis des Konservativismus in Deutschland". Eine der tragischen Fehlentwicklung Weimars bestand laut Kroll darin, dass die deutschen Konservativen es nicht vermochten, dem erstarkenden Nationalsozialismus eine Alternative in Form eines konservativen Sozialismus entgegenzusetzen. Im zweiten Vortrag des Panels beleuchtete Prof. Dr. Walter Mühlhausen (Technische Universität Darmstadt, Friedrich-Ebert Gedenkstätte Heidelberg) unter dem Titel "Friedrich Ebert und der Erste Weltkrieg" die sozialdemokratische Seite der Entwicklung. Laut Mühlhausen führte der erste Weltkrieg zu einer veränderten Stellung der Sozialdemokratie innerhalb Deutschlands, was sich auch an der Biografie Eberts nachvollziehen lasse. Ebert entwickelte sich vom Parteipolitiker zum Nationalpolitiker, die SPD vom Systemfeind zum regierungsfähigen Systemträger der Republik – dies allerdings nur um den Preis der Spaltung in zwei Arbeiterparteien, die sich fortan feindlich gegenüberstanden.
Das letzte Panel des ersten Tages beschäftigte sich mit den Entwicklungen und Konsequenzen, die der Erste Weltkrieg im Bereich der deutschen Staatslehre und des Verwaltungsrechts mit sich brachte. Das Panel trug die Überschrift "Die Wirkung des Ersten Weltkrieges" auf das Rechtsdenken am Beispiel Deutschlands. Als erste Vortragende dieses Panels setzte sich Prof. Dr. Kathrin Groh (Universität der Bundeswehr München) unter dem Titel "Menschenrechtsentwicklungen in der deutschen Staatslehre" mit der Signifikanz des Menschenrechts- und Grundrechtsschutzgedanken vor und nach dem Ersten Weltkrieg auseinander, der in den Verhandlungen zur Weimarer Reichsverfassung eine nur untergeordnete Rolle spielte und sich im Zeitalter der Extreme zwischen den Kriegen nicht halten konnte. Als letzter Referent des ersten Tages gab Prof. Dr. Michael Anderheiden (AUB) Einblick in das Fortbestehen des Verwaltungsrechts in Deutschland während des Ersten Weltkrieges am Beispiel der Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung.
Als Rahmenprogramm für die Konferenz wurde in Kooperation mit dem Institut Français in dessen Räumlichkeiten der französische Spielfilm "La Grande Illusion" von Jean Renoir aus dem Jahre 1937 gezeigt. Mit diesem sich thematisch hervorragend einreihenden Klassiker des Kriegsfilmgenres und einem anschließenden Empfang ging der erste Konferenztag zu Ende.
Am zweiten Tag der Konferenz wurde im ersten Panel der "nationale Aufbruch in Mittel- und Osteuropa" von Dr. Marc Stegherr (Babes-Bolyai-Universität Cluj-Napoca / LMU München) näher beleuchtet. In seinem Vortrag ging Stegherr am Beispiel verschiedener Vordenker des Nachkriegs-Nationalismus bei Serben, Tschechen und Ruthenen in der Ukraine auf den nationalen Aufbruch der "kleinen Nationen" der Donaumonarchie ein. Die Hoffnungen dieser Vordenker zerschlugen sich allerdings bekanntlich relativ schnell und gingen in der Sowjetunion und in den Nationalitätenstreiten der Zwischenkriegszeit, die in den Zweiten Weltkrieg getragen wurden, unter.
Im letzten Panel der Tagung wurden "Die totalitären Ideologien als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg" näher beleuchtet. Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig trug zum Thema "Fronterlebnis und Dolchstoßlegende – Hitlers Prägung durch den Ersten Weltkrieg" vor. Zehnpfennig macht in ihrem Vortrag deutlich, dass der erste Weltkrieg einen maßgeblichen Einfluss auf Hitlers Denken hatte und wohl der entscheidende Auslöser dafür war, dass Hitler sich der Politik zuwandte. Im zweiten Vortrag des Panels und damit dem letzten Vortrag der Tagung ging Prof. Dr. Hendrik Hansen (AUB) auf "Die Bedeutung der Kriegserfahrung für die Entwicklung des Marxismus-Leninismus" ein. Dabei setzte er sich mit der These auseinander, die Gewalt der Bolschewiki und die Grausamkeit des Stalinismus seien erst durch den Ersten Weltkrieg entstanden und eine Folge dieses Krieges. Hansen vertrat die Gegenthese, dass die Gewalttätigkeit des Bolschewismus nicht eine Folge des Krieges, sondern dem Denken des Marxismus-Leninismus immanent sei und der Bolschewismus den Krieg instrumentalisiert habe.
Mit 30 Minuten Vortragszeit und 30 Minuten Diskussion bot sich während der Konferenz für jeden Vortrag ein großzügiger Rahmen, der jeweils mit pointierten Referaten und anregenden Diskussionen ausgeschöpft wurde. Auch allen Vortragenden und Referenten sei an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt.
Text: Julia Gebhard und Tim Kraski
Bilder: Szecsődi Balázs