Am 3. Mai 2017 startete die Ringvorlesung „Die Krise Europas“, die neben einer Bestandsaufnahme der Krisensymptome auch Zukunftsperspektiven für die EU und Lösungsvorschläge für Probleme diskutieren soll. Das Projekt wird vom Zentrum für Demokratieforschung an der Andrássy Universität Budapest in Zusammenarbeit mit dem Internationalen und Interuniversitären Netzwerk für Politische Kommunikation (netPOL) organisiert. Vor rund 50 Zuhörern legte der Referent Prof. Dr. Georg Vobruba dar, inwieweit eine Flexibilisierung der europäischen Integration zur Überwindung von Krisen beitragen könne. Dabei konzentrierte er sich insbesondere auf die Euro-Krise und das Schengen-System.
Prof. Dr. Ellen Bos, Prorektorin für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs an der AUB, unterstrich in ihrer Begrüßungsrede den Aktualitätsbezug der Krisen aus der jüngeren Vergangenheit Europas, die dazu beigetragen haben, dass über die Zukunft der Europäischen Union debattiert werde. Es zeichne sich ab, dass die Neugestaltung des Gleichgewichts von Gesellschaft, Markt und Staat zwischen den Mitgliedstaaten und der EU unabdingbar sei, so Bos. Hierbei seien Staaten trotz eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten als Organisationseinheiten gefordert.
Anschließend präsentierte Vobruba, emeritierter Professor an der Universität Leipzig, seine Forschungsergebnisse. Zunächst definierte er zwei Grundmuster von Integration, die sich in einer einheitlichen und in einer differenzierten Form manifestierten. Letztere ließe sich unterteilen in die abgestufte Integration, bei der die Kerngruppe ein strukturell höheres Integrationsniveau erreiche, und in die Netzwerk-Integration, bei der Mitgliedsstaaten der EU in ausdifferenzierten Bereichen unterschiedlich hoch integriert seien. Die einheitliche Integration sei ein normativ wünschenswerter Zustand, der jedoch in der sozialen Wirklichkeit utopisch erscheine, schloss Vobruba diesen Gedankengang ab.
Das europäische Sozialmodell basiere nach Vobruba auf der spezifischen geopolitischen Struktur der EU. Diese Struktur bestehe durch wechselseitige Beziehungen zwischen allen Mitgliedstaaten, insbesondere zwischen dem Zentrum und der Peripherie der EU. Ferner entstünden interne Abstufungen durch Zusammenschlüsse von Wirtschaftsräumen mit ähnlichen Wirtschaftskapazitäten. Diese begünstigten die Herausbildung von Konkurrenzdruck sowie die Mobilität von Produktionsfaktoren und den Transfer von monetären Leistungen in weniger entwickelte Wirtschaftsräume, solange wirtschaftliche Defizite zumindest ansatzweise ausgeglichen seien.
Seit der Gründung der EU habe man den „Weg der abgestuften Integration“ eingeschlagen, der sich am Beispiel der Eurokrise veranschaulichen lasse. Diese sei eine logische Konsequenz der europäischen Währungsunion sowie als Abstufung infolge der Zugehörigkeit zum Währungsraum zu verstehen. Die Flüchtlingskrise habe auch innerhalb des Schengen-Systems das Gleichgewicht zwischen innerer Freiheit und äußerer Kontrolle destabilisiert, somit ebenfalls ernste Konflikte zwischen dem Zentrum und der Peripherie der EU bedingt.
Die Krisen haben zu Sparmaßnahmen sowie zur Vertiefung der Integrität des Zentrums geführt, aber auch Ausschlussdrohungen gegenüber den Ländern der Peripherie bewirkt. Im Zuge der Krise des Schengen-Systems wurde deutlich, dass eine Pufferzone für das Zentrum nötig sei. Länder dieser Zone verpflichten sich zu politischen und wirtschaftlichen Modernisierungen, wofür sie finanzielle und administrative Unterstützung vom Zentrum erhalten. Dies garantiere einerseits soziale Mobilität und den Zugang zum europäischen Binnenmarkt, andererseits absorbiere die Pufferzone– nicht zuletzt aufgrund ihrer geographischen Lage – äußere Probleme. Dieses Paradigma verdeutliche die gegenseitige Abhängigkeit, die unter anderem die Herausarbeitung von nachhaltigen Lösungskonzepten erschwere.
Alles in allem, so der Referent des Abends, führen die Krisen in der Eurozone und des Schengen-Systems zu einer mehrstufigen, untergliederten Struktur der EU. Es entwickele sich zunehmend ein komplexes politisches System von wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Zentrum und der südlichen Peripherie, gekennzeichnet von einer mehrstufig integrierten geopolitischen Struktur. Dennoch sei die Partizipation aller EU-Mitgliedsstaaten nicht zu bewerkstelligen, wodurch teilweise integrierte Staaten außen vor blieben.
Text: Bálint Lengyel