„In general, we, historians of Poland and Polish Jews, tend to shun from a broader comparative perspective. … I would argue that comparative study, even if subject to the risk of failure, is a worthy enterprise in Polish-Jewish history, in general, and in post-Holocaust Jewish history, in particular.” Mit diesen Worten leitete Anna Cichopek-Gajraj, Assistenzprofessorin für Osteuropäische Jüdische Geschichte an der „School of Historical, Philosophical and Religious Studies“ der Arizona State University (USA), ihren Vortrag am 3. Juni 2015 an der AUB ein. Sie präsentierte dabei – moderiert von András Kovács (Central European University, CEU) – neueste Forschungsergebnisse zu ihrer Studie nichtjüdischer-jüdischer Beziehungen in Polen und der Slowakei nach dem Zweiten Weltkrieg, welche nun auch in publizierter Form vorliegen („Beyond Violence: Jewish Survivors in Poland and Slovakia in 1944-1948“, Cambridge University Press).
Zu Beginn ergründete Cichopek-Gajraj unter Berufung auf verschiedene WissenschafterInnen (Nancy Green, Maud Mandel etc.) diese Scheu vor komparativen Studien, insbesondere unter HistorikerInnen jüdischer Geschichte. Sie konstatierte das Fehlen einer umfassenden Theorie zur Methode des historischen Vergleiches bzw. einer „comparative method“ überhaupt. Dafür gäbe es aber jede Menge Vorwürfe, welche bereits von Anfang an im Raum stünden: Ein Vergleich sei zu eng oder zu weit gefasst, er wäre zu oberflächlich, basiere auf nicht vergleichbaren, weil zu unterschiedlichen Quellen oder überhaupt wären die Kriterien unklar definiert. Dies möge auch bisweilen zutreffen, räumte die Referentin ein, plädierte aber dennoch für die Durchführung von Vergleichsstudien und verwies auf Todd M. Endelmann, der meinte: „Jewish history, with its lack of territorial focus, offers laboratory-like opportunities for making comparisons and doing so can generate new, intellectually engaging questions and provide sharper, more finely tuned answers to new and old questions.“ Auf ihre eigene Arbeit bezogen hielt Cichopek-Gajraj in drei Punkten fest, warum ihr eine vergleichende Perspektive lohnenswert schien: 1.) Sie ermögliche es, im Nachkriegs-Osteuropa zu erkennen, welche Erfahrungen allgemeiner Natur waren und welche spezifisch nationalen Charakter hatten. 2.) Sie beleuchte Aspekte spezifischer Ereignisse und ihrer Begleitumstände, welche, wenn sie nur im Kontext eines einzelnen Nationenstaates gesehen werden, obskur oder mehrdeutig erscheinen würden. Und 3.) helfe sie dabei, das Wichtige vom Zufälligen in der jüdischen Nachkriegsgeschichte Polens und der Slowakei zu unterscheiden.
So ermöglichte es die Vergleichsanalyse in Cichopek-Gajrajs Fallstudie zum Vermögensentzug in Polen und in der Slowakei von 1944 bis 1948, die Transnationalität der Schwierigkeiten, die mit einer effizienten Restitution verbunden waren, wie auch die Transnationalität der Versuche, eine jüdische Infrastruktur in Osteuropa allen Widerständen zum Trotz wieder aufzubauen, aufzuzeigen. Während des Krieges kam es in Polen wie auch in der Slowakei zur „Arisierung“ jüdischen Eigentums. Nach dem Krieg wurden im März und Mai 1945 bzw. im März 1946 in Polen drei Restitutionsgesetze erlassen – in der Slowakei nur ein Gesetz und dieses erst relativ spät, im Mai 1946. Beide Regierungen übten jedoch keinen Druck bei der Umsetzung der Gesetze aus.
Cichopek-Gajraj führte für dieses Phänomen mehrere Gründe an. Zum einen herrschte aufgrund des starken Widerstands der Profiteure Angst, eine vollständige Restitution würde zu sozialen Unruhen führen. Man wollte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, Juden und Jüdinnen zu „bevorzugen“. Die Wechselwirkung von Restitution und antisemitischer Gewalt war nicht von der Hand zu weisen, wie auch die in beiden Ländern stattgefundenen Pogrome belegen. Zum andern lag die Restitution von Privatvermögen nicht im Interesse der Regierungen, da in Osteuropa generell der Trend Richtung Nationalisierung und Verstaatlichung, verbunden mit einer Rücknahme privaten Eigentums, ging. Darüber hinaus fehlte in beiden Ländern jegliches Gefühl einer „moralischen Verantwortung“, welche eine wichtige Voraussetzung für eine effektive Implementierung der Restitution bedeutet hätte. Beide Staaten wiesen jegliche (Mit-)Verantwortung bei der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zurück, da diese ausschließlich durch das NS-Regime durchgeführt worden wäre. Schließlich stellte sich in beiden Ländern die lokale Bürokratie als größtes Hindernis bei der Umsetzung der Restituierungsmaßnahmen heraus. Korruption war den mit der Organisation der Abwicklung betrauten Personen bzw. neu gegründeten Einrichtungen nicht fremd, und so sahen sich jüdische Überlebende einem Netzwerk gegenüber, gegen das sie sich nur schwer ihr Recht erkämpfen konnten.
Obschon diese Probleme bekannt waren, versuchten Juden und Jüdinnen dennoch in beiden Ländern, administrative und rechtliche Wege zu beschreiten, um ihr Vermögen zurückzuerhalten. Die Verfahren zogen sich – wie auch in anderen Ländern – oft über Jahre hin. Dabei stellte Cichopek-Gajraj fest, dass es zwar auf der staatlichen Ebene beider Länder an Umsetzungswillen mangelte, auf der Praxisebene gestaltete sich dies jedoch durchaus unterschiedlich. Die Referentin führte dies u.a. auf die unterschiedliche Intensität antijüdischer Gewalttaten in Polen und der Slowakei zurück (die Pogrome im Nachkriegspolen waren wesentlich heftiger), aber auch auf die unterschiedlichen Beziehungen zur Sowjetunion. Im Nachkriegspolen (ausg. Schlesien) war Gewalt omnipräsent; Juden und Jüdinnen warf man ein Näheverhältnis zur als Feind empfundenen Sowjetunion vor und diffamierte sie als „Judenbolschewiken“. Ferner war die Restitution in Polen im Unterschied zur Slowakei vor allem ein urbanes Phänomen. Cichopek-Gajraj schloss mit einem Appell für weitere komparative Forschung und stellte sich anschließend einer angeregten Diskussion.
Der Vortrag bildete den Abschluss der im Sommersemester 2015 von Ursula Mindler-Steiner organisierten Kooperationsveranstaltungen zwischen AUB/MES und CEU/Jewish Studies und fand in der von Zsófia Harsányi zur Verfügung gestellten Österreichbibliothek statt. Eine Fortsetzung im Wintersemester ist angedacht.
Text: Ursula Mindler-Steiner
Fotos: AUB