Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Kommunismus ist Gegenstand sowohl politischer Debatten als auch der Literatur. In der Politik steht dabei die Frage nach der politischen und juristischen Aufarbeitung der Verbrechen und nach angemessenen Formen des kollektiven Erinnerns im Zentrum, in der Literatur zumeist die Auseinandersetzung mit der individuellen Erfahrung der Diktatur bzw. der totalitären Herrschaft. Trotz des engen thematischen Bezugs erfolgt die Auseinandersetzung mit der Erinnerungspolitik und -kultur bislang in der Politik- und Literaturwissenschaft jedoch weitgehend getrennt.
Die internationale und interdisziplinäre Sommeruniversität in Budapest will die beiden Zugänge verbinden: Die Literaturwissenschaft analysiert die Verarbeitung persönlicher Erfahrungen in der Literatur, während die Politikwissenschaft die systematische Einordnung der individuellen Perspektive in die politischen Zusammenhänge ermöglicht. Die Verbindung von Literatur- und Politikwissenschaft erlaubt insbesondere eine bessere Auseinandersetzung mit der individuellen und der kollektiven Ebene der Erinnerung an Nationalsozialismus und Kommunismus in Mittel- und Osteuropa.
In Mittel- und Osteuropa spielt die Auseinandersetzung mit dem Leiden unter dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus und die Erinnerung an den Widerstand gegen die Diktaturen auf der kollektiven Ebene eine konstituierende Rolle für das Selbstverständnis der Nationen. Auf der individuellen Ebene hingegen werden Probleme wie das Verhalten einzelner gegenüber der jeweiligen herrschenden Partei, die Auseinandersetzung von Nachfahren mit der Schuld ihrer Vorfahren oder die Suche nach den Wurzeln der eigenen Identität thematisiert.
In Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur lassen sich teilweise Vereinseitigungen der kollektiven und der individuellen Perspektive beobachten. In der Geschichtspolitik verschiedener mittel- und osteuropäischer Staaten wird die Erinnerung für die Herausbildung nationaler Identitäten unter Betonung der Abgrenzung von anderen Nationen oder von politischen Gegnern instrumentalisiert. Auf der anderen Seite gibt es in der Literatur konstruktivistische Positionen, die auf eine Auflösung aller Eindeutigkeiten zielen. Die narrativen Prozesse, auf denen kollektive Geschichtsbilder basieren, werden im Sinne des Geschichtenerzählens als bloße – je individuelle – Narrationen offengelegt, die keinen gemeinsamen (nationalen oder europäischen) Blick auf die Vergangenheit ermöglichen.
Im Rahmen der Sommeruniversität sollen die Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit und der Erinnerung in Politik- und Literaturwissenschaft zusammengeführt werden, um eine Verbindung zwischen der individuellen, persönlichen und der kollektiven Ebene des Erinnerns herzustellen. Dabei geht es auch um die Frage, ob es vor dem Hintergrund vielgestaltiger kollektiver und individueller Zugänge eine gemeinsame europäische Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und des Kommunismus geben kann.
Die Sommeruniversität wird in deutscher Sprache von der Andrássy Universität Budapest und dem Germanistischen Institut der Eötvös Loránd Universität (ELTE Budapest) durchgeführt. Sie richtet sich an Bachelor- und Master-Studierende aus deutschsprachigen Ländern, Mittelosteuropa, Südosteuropa, Osteuropa und den GUS-Staaten.
Thematisch gliedert sich die Sommeruniversität in drei Teile, in denen jeweils zwei oder drei Referenten über einen Zeitraum von zwei Tagen Vorträge und Seminarsitzungen anbieten:
- Gegenstand der Erinnerungskultur: Wie werden nationalsozialistische und kommunistische Diktaturerfahrung in Politik und Literatur thematisiert? Welches Bild wird vom Widerstand gegen die Diktaturen gezeichnet?
- Nationales Erinnern: Welche Besonderheiten weist die Erinnerung an die nationalsozialistische und die kommunistische Vergangenheit in der Politik und in der Literatur in Polen, Tschechien und Ungarn auf?
- Transnationales Erinnern: Welche Möglichkeiten sind denkbar, in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu einer europäischen Erinnerungskultur zu kommen? Welche Ansätze gibt es, um den Konflikt zwischen individuellen und kollektiven Zugängen zur Erinnerungskultur zu überwinden?
Jeder Teil wird von Impulsvorträgen (jeweils ca. 20-30 min) der Referenten eröffnet. Die Teilnehmer arbeiten danach parallel in Seminarsitzungen in kleineren Gruppen (8-15 Teilnehmer) mit je einem der Referenten zusammen. Abschließend werden die Ergebnisse jedes Teils in einer Podiumsdiskussion im Plenum zusammengetragen und ausgewertet.
An drei Nachmittagen und am letzten Tag werden Ausflüge zu Budapester Gedenkstätten (Holocaust-Memorial, Haus des Terrors, Memento Park) und eine „erinnerungskulturelle Stadtführung“ organisiert. Drei Abendveranstaltungen mit Lesungen und Zeitzeugengesprächen ergänzen das Programm.
Vorläufiges Programm
Sonntag, 28.08.2016
Anreise; gemeinsames Abendessen
Teil I: Nationalsozialistische und kommunistische Diktaturen als Gegenstand des Erinnerns
Leitung: Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll (TU Chemnitz), Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig (Universität Passau)
Montag, 29.08.
9:30-11:00 Plenum
11:15-12:45 Arbeitsgruppen
14:00-17:15 Arbeitsgruppen
Dienstag, 30.08.
9:30-11:00 Arbeitsgruppen
11:15-12:45 Abschlussdiskussion Teil I
14:00-17:15 Ausflug (Haus des Terrors, Budapest)
Teil II: Nationale Erinnerungskulturen
Leitung: Prof. Ines Geipel (Hochschule für Schauspielkunst Berlin), Prof. Dr. Catherine Horel (Université de Paris I), Adam Krzemiński (polnischer Journalist und Publizist)
Mittwoch, 31.08.
9:30-11:00 Plenum
11:15-12:45 Arbeitsgruppen
14:00-17:15 Arbeitsgruppen
Abendprogramm: Zeitzeugengespräch mit Éva Pusztai-Fahidi, Holocaust-Überlebende, in der Deutschen Botschaft Budapest
Donnerstag, 01.09.
9:30-11:00 Arbeitsgruppen
11:15-12:45 Abschlussdiskussion Teil II
(Nachmittag zur freien Verfügung)
Abendprogramm: Lesung und Gespräch mit Léda Forgó („Der Körper meines Bruders“): Erinnerung an Ungarn 1956, im Goethe Institut Budapest
Teil III: Transnationale Erinnerungskultur in Mittel- und Osteuropa
Leitung: Univ.-Doz. Dr. Éva Kovács (Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien), PD Dr. Heidemarie Uhl (Österreichische Akademie der Wissenschaften), Prof. Dr. Manfred Weinberg (Karls-Universität Prag)
Freitag, 02.09.
9:30-11:00 Plenum
11:15-12:45 Arbeitsgruppen
14:00-17:15 Arbeitsgruppen
Samstag, 03.09.
9:30-11:00 Arbeitsgruppen
11:15-12:45 Abschlussdiskussion Teil III
Anschließend Stadtführung „Erinnerungskultur in Budapest“
(Nachmittag zur freien Verfügung)
Sonntag, 04.09.
Abreise