Sowohl die EU als auch die meisten Mitgliedstaaten durchleben seit Jahren tiefgreifende Krisen. Während sich die europäische Wirtschaft bis heute noch nicht vollständig von den Verwerfungen der Schulden- und Finanzkrise erholt hat, sind weitere Herausforderungen wie etwa die Migrationskrise, der Brexit und das Erstarken populistischer Parteien und Bewegungen hinzugekommen. Diese Herausforderungen gehen mit weitreichenden politischen, ökonomischen und sozialen Verwerfungen einher und werden als Symptome einer (oder mehrerer) tieferliegender Krise(n) wahrgenommen. Infolge dieser Entwicklungen lassen sich neue institutionelle Konfigurationen, die Entstehung neuer gesellschaftlicher Akteure sowie tiefgreifende Konflikte, aber auch neue Kooperationsmuster zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sowie zwischen den Mitgliedstaaten der EU beobachten.
Die Krisen der jüngeren Vergangenheit haben dazu beigetragen, dass einerseits eine lebhafte Debatte über die Zukunft der EU geführt wird, in welcher insbesondere die Frage im Zentrum steht, wie das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der EU im europäischen Mehrebenensystem ausgestaltet werden sollte. Andererseits haben die Krisenerscheinungen auch ganz grundsätzliche Kontroversen über das komplizierte Gleichgewicht zwischen Staat, Markt und Gesellschaft innerhalb von Nationalstaaten hervorgerufen. Auch wenn der Staat als Krisenmanager heute wieder stärker gefordert ist, so bleiben seine Handlungsmöglichkeiten doch offenbar hinter diesen Erwartungen zurück. Gleichzeitig verschärften die tiefgreifenden Krisen bereits bestehende Entwicklungen, die demokratische Grundprinzipien in den Nationalstaaten auszuhöhlen drohen, und der EU mangelt es in diesem Bereich auch an einem Instrumentarium, um ihre grundlegenden Werte gegenüber den Mitgliedstaaten durchzusetzen.
Ziel dieser Ringvorlesungsreihe mit dem Titel „Die Krise Europas“ ist es einerseits eine Bestandsaufnahme der Krisensymptome sowie der dadurch ausgelösten Diskussion vorzunehmen. Andererseits sollen auch mögliche Zukunftsperspektiven für die EU und Lösungsvorschläge für die Probleme diskutiert werden.
Im ersten Vortrag der Ringvorlesungsreihe beschäftigt sich Prof. Dr. Georg Vobruba von der Universität Leipzig mit der Frage, inwieweit eine Flexibilisierung der europäischen Integration, durch die die Mitgliedstaaten verstärkt individuell über den Grad ihrer Mitwirkung in unterschiedlichen Politikfeldern entscheiden könnten, zur Überwindung der angesprochenen Krisen beitragen könnte. Neben der Herausarbeitung des potentiellen Nutzens einer abgestuften Integration sollen auch die Probleme, die sich aus diesem Konzept ergeben, beleuchtet werden.
Prof. Dr. Georg Vobruba lehrte bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2013 an der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen insbesondere die Soziologie sozialer Sicherheit, die Europasoziologie sowie die soziologische Gesellschaftstheorie.